Deutschland im Würgegriff der Achtundsechziger
Deutschland hat mit einer schwerwiegenden Identitätskrise zu kämpfen. Ein Jahrhundert nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und zwei Jahrzehnte nach der dritten, „Kalter Krieg“ genannten Kraftprobe haben die Deutschen noch immer keine eigene Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie sind nicht fähig, sich aus der falschen und irreführenden Welt der Gegensatzpaare von Täter und Opfer, unschuldig und schuldig, Verlierer und Sieger zu befreien. Deutschland hat zwar seine Wirtschaft in Rekordzeit wieder auf die Beine gestellt, konnte aber die Seelen seiner Bürger noch immer nicht heilen und wieder aufbauen. Welche Folgen hat dies heute in Deutschland und in Europa?
„Die Deutsche Reichsgründung ist ein größeres politisches Ereignis als
die Französische Revolution im letzten Jahrhundert (…)
Die Folgen sind kaum vorhersehbar, und neue unbekannte Ziele und Gefahren drohen (…)
die ‘Balance of Power’ ist gänzlich zerstört, und England ist das Land, das darunter am meisten leiden wird.“
Der spätere englische Premierminister Benjamin Disraeli am 9. Februar 1871 im Unterhaus.
Deutschland ist ein junges Land. Es entstand erst zum Ende des 19. Jahrhunderts, durch die so genannte kleindeutsche Einheit im Jahr 1871, das heißt unter der Führung Preußens und unter Ausschluss Österreichs. Das neue Deutsche Kaiserreich wurde am 18. Januar an einem symbolträchtigen Ort, in Versailles, im Spiegelsaal des prächtigen Schlosses des Sonnenkönigs Ludwig XIV. an dem Ort, der eigentlich Frankreichs Großmachtanspruch symbolisiert, proklamiert, nachdem im preußisch-französischen Krieg die unter preußischer Führung stehenden deutschen Truppen Frankreich eine erniedrigende Niederlage zugefügt hatten. Jenem Frankreich, das im Laufe der Napoleonischen Kriege die deutschen Staaten der Reihe nach besetzt, ausgeplündert und erniedrigt hatte, das nur mehr formell existierende Heilige Römische Reich deutscher Nation liquidiert und die Wirtschaft Preußens in Schutt und Asche gelegt hatte, indem es eine beinahe unerträgliche Kriegssteuer erhob und dadurch sogar Preußens staatliche Existenz gefährdete. Obwohl Frankreich nach der Niederschlagung Napoleons seinen Status als Großmacht verloren hatte, war es in der Lage, seine expansive Politik in einem wehmütigen romantischen Glanz darzustellen und Napoleon als tragischen Helden, als einen echten „Superman“ erscheinen zu lassen.
Wir haben also einiges von Frankreich zu lernen, denn es hat seine blutige und unerbittliche Revolution, ein unmenschliches und durch nichts zu legitimierendes Terrorsystem, seinen ganz Europa ausplündernden und unterwerfen wollenden Kaiser als zu befolgendes Beispiel präsentiert und die volle Akzeptanz dieses „Beispiels“ bei mehreren aufeinander folgenden Generationen Europas durchgesetzt. Frankreich war sogar in der Lage, dies bis auf den heutigen Tag mit unverminderter Intensität weiterzuführen. So hat es Frankreich geschafft, die Lostrennung von Elsass-Lothringen als einen gesamteuropäischen Verlust erscheinen zu lassen und die unheilvolle Episode der Pariser Kommune der immer stärker werdenden Linken als ein leuchtendes Beispiel anzubieten. Auch heute noch verbreitet sich die Legende, Frankreich habe beide Weltkriege „siegreich“ beendet, so wie auch der Mythos des gegenüber den Nazis heldenhaft Widerstand leistenden französischen Volkes in beinahe allen Lehrbüchern unseres Kontinents zu finden ist. Über die französische Kollaboration, ihren Marionettenstaat, die schwere und besonders im Zweiten Weltkrieg erniedrigende Niederlage war hingegen in den vergangenen Jahrzehnten so gut wie nie die Rede.
Unter Verweis auf seinen Status als „Sieger“ bekleidet Frankreich bis auf den heutigen Tag sowohl weltweit (ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen) als auch im Leben der Europäischen Union eine weitaus bedeutendere Rolle, als es ihm auf Grund seines tatsächlichen Gewichtes, seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und seiner in den vergangenen zwei Jahrhunderten gezeigten Leistungen zukommt. Obwohl das neue Deutsche Kaiserreich auf dem Schlachtfeld von Sedan das provozierende Frankreich mit spielerischer Leichtigkeit besiegt hatte, erlitt das Deutsche Reich auf dem Gebiet der Propaganda eine bis auf den heutigen Tag nachwirkende schwere Niederlage. Das Adjektiv „preußisch“ wurde zu einem Synonym von Unfrieden, Militarismus, Unmenschlichkeit, Kleinlichkeit, gleichbedeutend mit einem diktatorischen System. Zu einem bedrückenden Erbe, zu dem man sich nicht bekennen könne, dessen man sich schämen müsse.
„Die enormen Veränderungen in der Welt können keine Entschuldigungen dafür sein, wenn man keinen Standpunkt oder keine Idee hat, wo man hingehört und wo man hin will.“
Helmut Kohl, 2011
Das Deutsche Kaiserreich erschaffende Preußen war der jüngste und modernste europäische Staat seiner Epoche. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete es – zuerst im Rahmen des Deutschen Bundes, dann innerhalb des Norddeutschen Bundes und schließlich unter seiner Führung im vereinten Deutschen Kaiserreich –, ähnlich wie andere Staaten Europas, eine konstitutionelle Monarchie, die ihren Staatsbürgern die wichtigsten Freiheitsrechte sicherte, ihnen Rechtssicherheit garantierte und ihren Alltag durch eine effizient arbeitende öffentliche Verwaltung erträglich machte.
Das in der Mitte Europas liegende neue Deutsche Reich war die gewaltige historische Leistung des Eisernen Kanzlers Otto von Bismarck. Sie zeichnete sich auch dadurch aus, dass sie das Gründerland selbst überwand und die Deutschen zu einer vereinten Nation machte. Bismarck erschuf ein Reich, das mit seiner modernen Armee, seiner Industrie, seinem vorbildlichen Sozial- und Bildungssystem zum Musterland Europas und zugleich der ganzen Welt wurde.
Hier war das Wahlrecht am weitreichendsten, hier führte man für die Arbeitnehmer zum ersten Mal eine Krankenversicherung (1883), eine Unfallversicherung beziehungsweise eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit sowie die Altersversicherung, das heißt die Rentenversicherung (1889), ein. Bereits im Jahr 1853 hatte man die Beschäftigung von Kindern im Alter von unter zwölf Jahren verboten. „Geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm Versorgung, wenn er alt ist“, forderte Reichskanzler Bismarck 1862 im Reichstag. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten sechzehn Millionen Menschen eine Kranken- und Rentenversicherung, und etwa achtundzwanzig Millionen eine Versicherung gegen Industrieunfälle abgeschlossen. Das Deutsche Kaiserreich wurde bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zur führenden Wirtschaftsmacht Europas. Die Industrieproduktion des Landes hatte sich im Zeitraum zwischen 1870 und 1913 verachtfacht, während sich jene Großbritanniens, das als führende Macht der Welt galt, lediglich verdoppelt und jene Frankreichs verdreifacht hatte. Im Bereich der Stahlproduktion hatte Deutschland die Briten bereits im Jahre 1893 überholt, bis 1910 überflügelte auch der Eisen- und Stahlexport des Reiches den des Insellandes. Die deutsche Elektroindustrie war für ein Drittel der weltweiten Stromproduktion verantwortlich, was mehr war, als die britische und die amerikanische Stromerzeugung zusammen. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges verfügte das Deutsche Kaiserreich über das bestentwickelte Wohlfahrtssystem der Welt.
Während des kurzen Bestehens der nach dem verlorenen Weltkrieg entstandenen Weimarer Republik erlebte Deutschland gleich zwei Mal, dass seine Wirtschaft zusammenbrach, seine nationale Währung ihren Wert verlor, sein einst so eng geflochtenes soziales Netz zerriss. Massenarbeitslosigkeit, eine ständige Führungskrise, eine Demokratie ohne Demokraten bildeten die Grundlage der Wählerentscheidung, die Adolf Hitler und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei in die Regierungsverantwortung katapultierte. Das Dritte Reich des Zeitraums 1933 bis 1945 und die von ihm begangenen schrecklichen Unmenschlichkeiten belasten die deutsche Gesellschaft bis auf den heutigen Tag als eine nicht enden wollende Selbstgeißelung.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg zu sich kommende Bundesrepublik Deutschland betrachtete die sozialen Einrichtungen des Deutschen Kaiserreiches als ihr Vorbild, als sie mit dem Ausbau der Adenauerschen-Erhardschen sozialen Marktwirtschaft die Grundlagen des Wohlfahrtsstaates legte. Jenes soziale Versorgungssystem, dessen Fugen sich in den vergangenen Jahren auf so dramatische Weise zu lockern scheinen, war die epochale Erneuerung des Bismarckschen Deutschen Reiches.
Über anderthalb Jahrhunderte hinweg bewunderte die Welt das deutsche Schulsystem. Vom Kindergarten bis zur Universität fand man hier die niveauvollsten und die beste Ausbildung garantierenden Institutionen. Den Stundenplan der preußischen Schulen und die Anforderungen für die Abiturprüfungen erarbeitete und führte der Unterrichts- und Kultusminister des in den napoleonischen Kriegen verheerten Berlin, Wilhelm von Humboldt, ein.
„Wer Menschheit sagt, will betrügen.“
Carl Schmitt
Dieses Unterrichtssystem sicherte den Hintergrund für jene gewaltige kulturelle und wissenschaftliche Leistung, die den Aufstieg Deutschlands ermöglichte. Die in den deutschen Schulen auf hohem Niveau gebotene Ausbildung überlebte zwei Weltkriege und die große Wirtschaftskrise, doch ist sie als Ergebnis der Zerstörungen der achtundsechziger Generation heute endgültig zu Boden gestreckt worden. Deshalb befindet sich heute das Wissensniveau der deutschen Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen zwischen Liechtenstein und Mexiko.
Die Achtundsechziger begeistern sich sehr stark für die ständige Veränderung von Unterricht und Er-ziehung, vor allem, um auf diese Weise die Zukunft der Gesellschaft in die eigenen Hände nehmen zu können. Wenn jemand, dann sind sie es, die wirklich daran glauben, dass die menschliche Natur durch Unterricht und Erziehung mit Leichtigkeit veränderbar ist, und „die Erschaffung des Menschen neuen Typs“ – oder, wie wir das im Osten nannten: des sozialistischen Menschen – in kurzer Zeit möglich sein wird, wenn die Entschlossenheit hierzu und die entsprechenden Methoden vorhanden sind. Möglicherweise wären sie auch mit weniger als mit der Erschaffung des sozialistischen Menschen zufrieden gewesen, vielleicht wollten und wollen sie mit Hilfe des Unterrichtssystems nur die sozialen Unterschiede ausmerzen.
Deshalb betrachten sie die Schulen als eine Art Versuchslabor, in dem man sich mit der Behebung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten beschäftigt. Dieses Ziel konnten sie trotz ständiger Reformattacken nicht erreichen. Ganz im Gegenteil: In den vergangenen anderthalb Jahrhunderten war hinsichtlich der Möglichkeiten zum Weiterlernen der familiäre Hintergrund noch nie derart bestimmend, wie es heute der Fall ist. Als Ergebnis der seit Jahrzehnten andauernden Reformwut sind im deutschen Schulsystem gegenwärtig die von den Schülern erzielten Ergebnisse in erster Linie von ihrer sozialen Lage abhängig.
Vor den nach 1968 eingeführten Reformen war das deutsche Unterrichts- und Schulsystem leistungsorientiert. Die „fortschrittliche Pädagogik“ der achtundsechziger Generation hat aber der Notendiktatur und der Unterscheidung auf Grund erbrachter Leistungen den Krieg erklärt.
Es ist kein Wunder, wenn die deutschen Bildungsinstitutionen in großer Zahl schlecht, kaum oder gar nicht ausgebildete Jugendliche hervorbringen. Wie es Jan Fleischhauer in seinem Buch ausführlich darlegt (Unter Linken. Von einem der aus Versehen konservativ wurde, rororo, 2010), waren im Jahr 2010 rund 25 Prozent der deutschen Schüler von der Schule so abgegangen, dass sie weder auf einem ausreichenden Niveau rechnen noch schreiben oder lesen konnten. Die Situation ist besonders in jenen Bundesländern dramatisch, in denen der Unterricht zum Experi-mentierfeld der linksliberalen Reformer geworden ist wie in Hamburg, in Hessen und in Nordrhein-Westfalen.
In diesen Regionen wird nicht nur das Modell der Gesamtschule angestrengt, sondern wird auch unter Hinweis auf Priorität der Integration die Differenzierung mit allen Mitteln verhindert, wobei man sogar die Beschränkung der gymnasialen Ausbildung auf zwei Jahre plant.
Laut der PISA-Studie aus dem Jahr 2006 führte bei 40 Prozent der deutschen Schüler ein Jahr Mathematikunterricht zu keinerlei Leistungssteigerung, bei weiteren acht Prozent stellte man eine Abnahme des Mathematikwissens fest. Obwohl an diesem Punkt die linken Erziehungsfachleute routinemäßig auf die eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten verweisen, stellt Fleischhauer fest, dass Deutschland spezifisch genauso viel für den Unterricht ausgibt, wie das in den PISA-Studien als Spitzenreiter ermittelte Finnland, das heißt pro Schüler jährlich 7000 Euro, was um 3000 Euro höher liegt, als der Durchschnitt der OECD-Länder.
„Womit erklären sie die Feigheit Westeuropas?“
Imre Kertész
Die PISA Ergebnisse deutscher Schüler sind im Jahr 2010 immer noch mittelmäßig, auch die Lesekompetenz liegt im Mittelfeld. Zwar ist festzustellen, dass sich Leistung der deutschen Schüler in den letzten Jahren verbessert hat, der Rückstand zu anderen Ländern ist jedoch kaum geringer geworden. (PISA-Studie Deutschland, 2010. Geringe Fortschritte; Dezember 2010.) Ungarn steht leider auch nicht besser da: Jeder 6. Schüler galt laut Untersuchungen als funktioneller Analphabet.
Die nunmehr Jahrzehnte dauernde „Demokratisierung“, das heißt Talfahrt, des deutschen Bildungssystems hat zur Folge, dass es einerseits zu wenige Spitzenkräfte gibt, andererseits zu viele Menschen, die wegen des schwachen Bildungsniveaus den Anschluss nicht mehr schaffen. All dies hat unmittelbar und auch mittelbar Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und engt die Grundlage des Innovationspotenzials auf beträchtliche Weise ein.
Die auf Gleichmacherei zielenden linksliberalen Vorstellungen in Bezug auf den Unterricht lassen das Individuum und jene Tatsache außer Acht, dass es Talentierte gibt, denen bei der Entfaltung ihrer Fähigkeiten geholfen werden muss, es aber auch solche gibt, die man dabei unterstützen muss, überhaupt das Tempo zu halten. Das Bemühen des Prinzips der Gleichbehandlung ist also nicht nur schädlich, sondern auch kontraproduktiv. Es wäre gerade das Wesen des effektiven Unterrichts-, Ausbildungs- und Erziehungssystems, dass wir mit den in die Schule kommenden Schülern nicht auf die gleiche Weise verfahren, sondern so sehr auf die Person zugeschnitten, wie dies nur möglich ist.
Die Doktrinäre der Achtundsechziger haben auf die Frage des Umgangs mit den Problemen die schlechtesten Antworten gegeben, indem sie die Erwartungen, mit anderen Worten: das Niveau, kontinuierlich gesenkt haben. Sie haben die Orthographie, die Satzkonstruktionen, die Aufgaben usw. vereinfacht. Deshalb bringt das System scharenweise Halb-Analphabeten hervor. In den Diskussionen um die Frage der Lockerung der orthographischen Regeln und Anforderungen hatte man bereits in den siebziger Jahren Argumente formuliert, die in jeder Stand-up-Comedy unverändert ins Repertoire hätten aufgenommen werden können. Zum Beispiel, dass das Erlernen und die Einhaltung der grammatischen Regeln die Schüler darauf dressiere auch die Praxis der Verteilung des Eigentums nicht in Frage zu stellen (Siegfried Jager, 1973). Oder: Damit wir den Schüler von den Traditionen losreißen können, ist es notwendig, ihn auch von der Erinnerung an das gewohnte Schriftbild zu befreien. Hierdurch werden wir ihn befähigen, sich zu seinen kulturellen Bindungen auf Distanz zu halten (Wolfgang Lempert, 1971).
Es mangelt nicht nur an der Notwendigkeit, sondern es ist geradezu unmodern, sich mit der Rechtschreibung herumzuschlagen und im modernen Deutschland die Schüler mit dieser zu belasten. Nach Auffassung der Achtundsechziger ist der Leistungszwang bewiesenermaßen antidemokratisch. Deshalb haben ihre Unterrichtspolitiker den Noten, ja sogar den Bewertungen den Krieg erklärt. Das heißt, im heutigen Deutschland ist es nicht nur keine Schande faul, gleichgültig und ungeeignet zu sein, sondern dies wird geradezu erwartet. Melde gehorsamst, dieser Erwartung wird dann auch in immer weiteren Kreisen Genüge getan.
Wo sind die Zeiten, in denen man die Deutschen für gründlich, pünktlich, akkurat und fleißig gehalten hatte? Unlängst habe ich einige Tage in Hessen, einer der Hochburgen der linken Unterrichtsreformen, verbracht. In den dortigen Kleinstädten und Dörfern bin ich desinteressierten, gelangweilten und desillusionierten jungen Menschen und auch solchen mittleren Alters begegnet. Die Dienstleister, mit denen ich in Verbindung kam, waren – wenn es sich nicht um Ausländer handelte – unfreundlich, widerwillig und in einzelnen Fällen regelrecht unverschämt. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie beleidigt waren, weil sie arbeiten mussten. Auf den Straßen sah ich weder Kinder, Kinderwagen schiebende Eltern noch alte Leute. Im riesigen Einkaufszentrum in Wetzlar gibt es weder einen Spielzeugladen noch ein Geschäft für Kinderbekleidung. Ich konnte meinem Enkelkind hier kein Geschenk kaufen. Zum Glück hatten wir auf der Heimreise für einige Stunden einen Zwischenstopp in Bamberg eingelegt. Es war, als ob wir einen anderen Kontinent betreten hätten. Angenehme Menschen, normales Leben. Bayern, ein Land, wo die Schulen noch in Ordnung sind, wo man Talente noch nicht verschwendet und wo auch Kindergeschäfte keine Rarität sind.
Einst, zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, studierten neuntausend Amerikaner an deutschen Universitäten. Als die Amerikanische Wirtschaftsgesellschaft (American Economic Association) gegründet wurde, hatten fünf ihrer sechs Begründer in Deutschland studiert, von den ersten sechsundzwanzig Präsidenten waren es mindestens zwanzig. Im Jahr 1906 hatten nach Angabe eines Professors der Universität Yale mehr als die Hälfte der führenden Ökonomen und Gesellschaftswissenschaftler der USA zumindest ein Jahr in Deutschland studiert. (Jonah Goldberg: Liberal Fascism – The Secret History of the American Left, From Mussolini to the Politics of Meaning, S. 94.)
Wie viele Amerikaner, wie viele Ausländer wählen heutzutage eine deutsche Universität? Warum sollten sie dies auch tun? Nach der Zusammenstellung des Time Magazins vom 9. Oktober 2008 befindet sich unter den ersten fünfzig Hochschulinstitutionen weltweit keine einzige aus Deutschland. In die ersten Hundert schafften es gerade einmal zwei deutsche Universitäten: an der 57. Stelle findet sich die Universität Heidelberg, an der 76. die von München. Auf den Rängen zwischen 137 und 190 finden sich eine Reihe deutscher Universitäten, die über eine große Vergangenheit verfügen und einst Weltniveau hatten, die Berliner Freie Universität, die Unis von Freiburg, Tübingen, Göttingen, Frankfurt am Main, die Berliner Technische Universität und die Universität Stuttgart.
Die selbstaufopfernde Haltung, zu der die deutschen Intellektuellen ihre Heimat zwingen, besitzt Seltenheitswert – dabei ist es möglicherweise korrekter, wenn ich statt Heimat den Begriff „Wirkungsraum“ benutze (beinahe hätte ich schon „Lebensraum“ geschrieben, doch habe ich es wegen der eventuellen negativen Konnotationen lieber gelassen). Auch bei uns in Ungarn gibt es Achtundsechziger, und es finden sich auch einige linksliberale Intellektuelle, natürlich sind auch sie doktrinär und bigott, doch sind von ihnen nur sehr wenige derart unpatriotisch wie ihre deutschen Vorbilder, und was noch viel wichtiger ist: ihnen gelang es nicht in dem Maße, die Selbstverteidigungsreflexe der ungarischen Gesellschaft zu eliminieren, wie dies ihren deutschen Gesinnungsgenossen gelungen ist.
Die Zerstörungen, die das seit Jahrzehnten wirkende Terrorsystem der linksliberalen Intelligenz Deutschland zufügt, sind entsetzlich. In Deutschland unterwirft sich inzwischen fast jeder und passt sich an. Denn selbst der kleinste Verstoß gegen die politisch korrekte Sprache wird gnadenlos bestraft. Nicht zufällig hat der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew, der als Samisdat-Autor die Beschaffenheit der sowjetischen Zensur am eigenen Leib erfahren konnte, festgestellt, dass der Kanon des politisch Korrekten nichts anderes ist, als eine Form der Zensur.
Achtundsechziger (1)
„Mensch, der die
eigene Postpubertät für die bedeutendste Wende der Weltgeschichte hält.“
Achtundsechziger (2)
„Mensch, der sich
von seinem antiwestlichen, antisemitischen Vater emanzipiert hat und seitdem unentwegt Amerika und Israel anschuldigt.“
(Joffe: Schöner Denken.
Wie man Politisch unkorrekt ist.
Piper, München, Zürich, 2010, S.15)
Wer es also in Deutschland wagt, einen selbständigen Gedanken zu formulieren, wer eine vom Mainstream abweichende Meinung über irgendetwas hat – und diese auch deutlich macht –, kann mit Sicherheit damit rechnen, dass die linksliberalen geistigen Terrorbrigaden geschlossen über ihn herfallen und nicht ruhen, ehe diese Person erledigt worden ist (Merz, Nolte, Sarazzin, Walser usw.). Im heutigen Deutschland, das sich für ach so demokratisch hält, ist es um die Meinungsfreiheit viel schlimmer bestellt als im Ungarn der achtziger Jahre unter dem Regime János Kádárs, dabei gab es dort noch die Zensur des Parteistaates. Die tonangebenden Meinungsmacher in Deutschland und ihre politischen Vertreter liefen Ende 2010 gegen das neue ungarische Mediengesetz Sturm. Sie sollten doch besser einen Blick darauf werfen, wie frei und in welcher Vielfalt verschiedenste Meinungen in Ungarn geäußert werden können.
Deutschland hat mit einer schwerwiegenden Identitätskrise zu kämpfen. Ich akzeptiere ja, dass es weder nach dem verlorenen Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg die Kraft hatte, den Deutungsrahmen der Sieger zu lockern. Ein Jahrhundert nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und zwei Jahrzehnte nach der dritten, „Kalter Krieg“ genannten, Kraftprobe haben die Deutschen noch immer keine eigene Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie sind außerstande, sich aus der falschen und irreführenden Welt der Gegensatzpaare von Täter und Opfer, unschuldig und schuldig, Verlierer und Sieger zu befreien.
Das 21. Jahrhundert hat Europa schon jetzt vor solche Herausforderungen gestellt, denen wir nicht gewachsen sein werden, solange sich das stärkste Land Europas vom 20. Jahrhundert gefangen halten lässt und in weiterer Folge auch uns gefangenhält. Deutschland ist die stärkste Volkswirtschaft der Europäischen Union, das drittreichste Land der Welt. Die offizielle Armutsschwelle liegt monatlich bei 930 Euro, was beinahe zweimal so viel ist wie das ungarische Durchschnittseinkommen, wobei die Armutsschwelle in Ungarn bei 55-60.000 Forint, das heißt bei etwa 220 Euro pro Person und Monat, liegt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg trotz der Zerstörungen binnen eines Jahrzehnts an die zweite Stelle des Welthandels hochgearbeitet. Sie ist wie der Phönix aus der Asche aufgestiegen, wie dies Edgar Wolfram so treffend formuliert hat. Allerdings: Zwar hat sie ihre Wirtschaft in Rekordzeit wieder auf die Beine gestellt, die Seelen ihrer Bürger konnte sie aber immer noch nicht heilen und aufbauen. Auf den Grabstein der deutschen Seele würde ich folgendes schreiben: Erstickt im Würgegriff ihrer linken Elite und dem der Holocaust-Rituale.
Die Achtundsechziger sind eine vaterlose Generation. Nicht nur, weil nach dem Zweiten Weltkrieg jedes zehnte Kind außerhalb einer Ehe geboren worden ist, da ja die Väter nicht aus dem Krieg zurück-gekehrt waren oder erst Jahre später aus der Gefangenschaft kamen. Von allen in den Jahren 1916-25 geborenen männlichen Deutschen sind zwei von fünf gefallen, gestorben oder verschwunden. Elf Millionen ehemalige Wehrmacht-Soldaten gerieten in Kriegsgefangenschaft. Nach den neuesten Forschungen sind 5,3 Millionen Soldaten gefallen beziehungsweise in der Gefangenschaft umgekommen. Die Zahl der zivilen Opfer beträgt etwa eine Million. Den Entbehrungen und den Hungersnöten nach dem Krieg fielen etwa 9 Millionen Menschen zum Opfer.
Wir haben bislang noch nicht jener Deutschen gedacht, die in vielen Fällen unschuldige Opfer der Rache nach dem Krieg wurden. Wir haben nicht von den deutschen Kriegsgefangenen gesprochen, die vorsätzlich umgebracht wurden, nicht von den Plänen, Deutschland von der Landkarte verschwinden zu lassen, dieses Land zu deindustrialisieren und einen Teil seiner Bevölkerung nach Afrika zu verbannen. Oder davon, dass es einen Plan gab, das Trinkwasser von Nürnberg zu vergiften, um auf diese Weise die Einwohner der Stadt umzubringen. Es ist kaum darüber gesprochen worden, welch grausame Massenmorde „einfache“ Polen und Tschechen in Schlesien und im Sudetenland unter den dort lebenden Deutschen anrichteten. Und man erinnert auch nicht daran, dass Edvard Beneš, der erst dann zur Verteidigung seiner Heimat aufrief, nachdem er ins Ausland gegangen war, im Jahr 1945 den Deutschen im Radio drohte: „Wehe euch, dreimal wehe! Wir werden euch ausrotten!“. Jene barbarische Gnadenlosigkeit, die sich die Tschechen gegenüber den Deutschen nach dem Krieg erlaubten, ist nur mit der der Nazis zu vergleichen.
Anscheinend haben sich die Tschechen wegen der deutschen Besetzung und wegen ihrer eigenen kollaborierenden Haltung auf eine Weise gerächt, dass sie ihren niederträchtigsten Trieben gegenüber den wehrlos gewordenen und ausgelieferten, durch andere Mächte besiegten Deutschen freien Lauf gelassen haben. Schulen wurden zu Folterkammern umfunktioniert. In das Prager Strahov-Stadion brachte man etwa 15.000 Deutsche. Dort machten sich die tschechischen Wächter einen Spaß daraus, den Deutschen zu befehlen, sie sollen um ihr Leben rennen, während sie von Maschinengewehrsalven niedergemäht wurden.
Jedes vierte deutsche Kind wuchs ohne Vater auf
Im Jahr 1953 arbeiteten noch immer drei Millionen Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter in der Sowjetunion. Jedes vierte deutsche Kind wuchs ohne Vater auf. Selbst Kinder, die Väter hatten, konnten meist nicht viel mit ihnen anfangen. Und wollten es auch gar nicht. Die Traumata des Krieges, der Front, der Gefangenschaft und des gigantischen Neuanfangs konnten weder gelindert, noch aufgelöst werden, da keines dieser Traumata ausgesprochen werden konnte. Es wurde keine Trauerarbeit geleistet. Auf Fragen gab es keine Antworten. Alles und jeden ummantelte das Schweigen und Verschweigen. Die Generation der Eltern wurde der jungen Generation fremd und blieb es auch. Sie war ihr peinlich, und das blieb auch so. Lauter potenzielle und tatsächliche Täter, deren Leben und Überleben eine unangenehme Tatsache war, selbst dann, wenn diese sie versorgten, aufzogen, bezahlten. Und selbst dann, wenn sie die BRD „eine postnazistische Rumpfrepublik unter amerikanischer Aufsicht“ (Mohr, S. 107.) wieder aufbauten, zum Wiedererblühen brachten. Selbst dann, wenn sie ihnen Wohlstand und soziale Sicherheit schufen. Doch die emotionale Identifikation zwischen den Generationen kam nicht zustande. Und diesen Zustand fehlender emotionaler Bindung hat die Generation der Söhne und Töchter auch auf das Land übertragen, auf jenes Land, das ihre Väter und Mütter für sie wieder aufgebaut hatten.
Die linksliberale Intelligenz in Deutschland ist arm an Emotionen und deshalb einsam, oder im neuen Sprachgebrauch: single, und natürlich arrogant, weil sie unglücklich ist. Aber auch ratlos, weil sie nicht einmal mehr weiß, wie sie all dies verändern könnte, denn alles ist genau so, wie sie es geplant hatte. Sie hat alles erreicht, was sie sich gewünscht hatte. Sie fährt Rad, schadet der Umwelt nicht, ist schlank und isst Biokost, außer, wenn sie irgendein teures Restaurant besucht, das gerade trendy ist. Sie besucht alternative Kunsthappenings, denen nur Blinde nicht ansehen, dass diese das authentischste Terrain für den Ausdruck der Solidarität mit den Unterdrückten sind. Vermutlich diente diesem Ziel auch, dass sich die Wintermode 2002/2003 in den Boutiquen von Berlin-Mitte mit der Neuen Deutschen Roten Armee Mode, Prada Meinhof, den Kollektionen des Terroristenschicks meldete. (Mohr, S. 123.).
All dies stellte und stellt für die Denkweise der politisch Korrekten natürlich kein Problem dar. Denn die Betonung liegt auf der Anpassung. Der Druck des Konformismus ist so stark, so sehr zu einer Lebensnotwendigkeit geworden, dass dafür nicht einmal die Selbstaufgabe ein zu hoher Preis zu sein scheint. Das Ergebnis ist das Fehlen von Familien und Kindern, von Enkeln, Eltern und Großeltern. Deutschland ist vom Aussterben bedroht. Seine Geburtenrate beträgt 1,35 Kinder pro Frau. Eine Nation, die sich selbst nicht reproduziert, kann nicht langfristig planen. Deshalb besitzt sie auch keine nationalen Interessen mehr (Spengler, Asia Times, 16. November 2011).
Schrittweise Besetzung der öffentlichen Ämter
Die Achtundsechziger-Generation hat im Laufe der siebziger Jahre schrittweise die Institutionen besetzt, allen voran Dingen die öffentlichen Ämter und Universitäten. Zwischen 1972 und 1979 nahm die Zahl der Professoren um 35 Prozent zu. Diese Stellen haben sie alle selbst besetzt. Bereits seit Jahrzehnten gehören ihnen alle Lehrstuhlleiterposten, Professorenstühle, sie stellen den Lehrstoff zusammen, sie wählen ihre Schüler aus, ernennen ihre Nachfolger. Sie beherrschen die Gesellschaftswissenschaften und die Medien. Es scheint sich Julius Langbehns Warnung aus dem Jahr 1891 zu bewahrheiten, wonach die Professoren die Nationalkrankheit Deutschlands darstellen.
Seit Jahrzehnten gibt die linksliberale intellektuelle Elite die Normen vor, genauer gesagt: sie selbst sind die Norm. Ihren Normen entsprechend wird zum allgemeinen Interesse, was ihren Zielen am besten dient. Die Linksliberalen sind unter anderem daran erkennbar, dass sie ihre egoistischen Interessen stets in eine riesige moralische Nebelwolke hüllen. Je edler das Ziel: Weltfrieden, atomkraftfreie Erde, aussterbende Rassen, Rechte der Tiere, Kinderarmut; der Kampf gegen Pädophilie, Frauenhass, Rassismus, Antisemitismus usw., je größer das moralische Gewese, das sie aufführen, desto offensichtlicher ist es, dass sie no