Schmidt Mária

Verraten und verkauft

Deutschland im Würgegriff der Achtundsechziger

Deutschland hat mit einer schwerwiegenden Identitätskrise zu kämpfen. Ein Jahrhundert nach dem Ausbruch des Ersten Welt­krieges, mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Welt­krieges und zwei Jahrzehnte nach der dritten, „Kalter Krieg“ genannten Kraftprobe haben die Deutschen noch immer keine eigene Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie sind nicht fähig, sich aus der falschen und irreführenden Welt der Gegensatzpaare von Täter und Opfer, unschuldig und schuldig, Verlierer und Sieger zu befreien. Deutschland hat zwar seine Wirtschaft in Rekordzeit wieder auf die Beine gestellt, konnte aber die Seelen seiner Bürger noch immer nicht heilen und wieder aufbauen. Welche Folgen hat dies heute in Deutschland und in Europa?

„Die Deutsche Reichsgründung ist ein größeres politisches Ereignis als
die Französische Revolution im letzten Jahrhundert (…)
Die Folgen sind kaum vorhersehbar, und neue unbekannte Ziele und Gefahren drohen (…)
die ‘Balance of Power’ ist gänzlich zerstört, und England ist das Land, das darunter am meisten leiden wird.“

Der spätere englische Premierminister Benjamin Disraeli am 9. Februar 1871 im Unterhaus.

Deutschland ist ein junges Land. Es entstand erst zum Ende des 19. Jahrhunderts, durch die so genannte kleindeutsche Einheit im Jahr 1871, das heißt unter der Führung Preußens und unter Ausschluss Österreichs. Das neue Deutsche Kaiserreich wurde am 18. Januar an einem symbolträchtigen Ort, in Versailles, im Spiegelsaal des prächtigen Schlosses des Sonnen­königs Ludwig XIV. an dem Ort, der eigentlich Frankreichs Groß­macht­an­spruch symbolisiert, prok­la­miert, nachdem im preußisch-französischen Krieg die unter preußischer Führung stehenden deutschen Truppen Frankreich eine erniedrigende Niederlage zugefügt hatten. Jenem Frankreich, das im Laufe der Napoleonischen Kriege die deutschen Staaten der Reihe nach besetzt, ausgeplündert und erniedrigt hatte, das nur mehr formell existierende Heilige Römische Reich deutscher Nation liquidiert und die Wirt­schaft Preußens in Schutt und Asche gelegt hatte, indem es eine beinahe unerträgliche Kriegs­steuer erhob und dadurch sogar Preußens staatliche Existenz gefährdete. Obwohl Frank­reich nach der Nieder­schla­gung Napoleons seinen Status als Großmacht verloren hatte, war es in der Lage, seine expansive Politik in einem wehmütigen romantischen Glanz darzustellen und Napoleon als tragischen Helden, als einen echten „Superman“ erscheinen zu lassen.
Wir haben also einiges von Frank­reich zu lernen, denn es hat seine blutige und unerbittliche Revolu­tion, ein unmenschliches und durch nichts zu legitimierendes Terror­sys­tem, seinen ganz Europa ausplündernden und unterwerfen wollenden Kaiser als zu befolgendes Beispiel präsentiert und die volle Akzeptanz dieses „Beispiels“ bei mehreren aufeinander folgenden Generationen Europas durchgesetzt. Frankreich war sogar in der Lage, dies bis auf den heutigen Tag mit unverminderter Intensität wei­ter­zuführen. So hat es Frankreich geschafft, die Lostrennung von Elsass-Lothringen als einen gesamteuropäischen Verlust erscheinen zu lassen und die unheilvolle Episode der Pariser Kommune der immer stärker werdenden Linken als ein leuchtendes Beispiel anzubieten. Auch heute noch verbreitet sich die Legende, Frankreich habe beide Weltkriege „siegreich“ beendet, so wie auch der Mythos des gegenüber den Nazis heldenhaft Wi­der­stand leistenden französischen Volkes in beinahe allen Lehrbüchern unseres Konti­nents zu finden ist. Über die französische Kol­la­­boration, ihren Mario­netten­staat, die schwere und besonders im Zweiten Weltkrieg erniedrigende Nie­derlage war hingegen in den vergangenen Jahrzehn­ten so gut wie nie die Rede.

Unter Verweis auf seinen Status als „Sieger“ bekleidet Frank­reich bis auf den heutigen Tag sowohl weltweit (ständige Mitglied­schaft im Sicherheitsrat der Verein­ten Na­tio­nen) als auch im Leben der Euro­päi­schen Union eine weitaus bedeutendere Rolle, als es ihm auf Grund seines tatsächlichen Ge­wichtes, seiner wirtschaftlichen Leis­tungs­fähigkeit und seiner in den vergangenen zwei Jahrhun­derten gezeigten Leis­tungen zukommt. Obwohl das neue Deut­sche Kai­ser­reich auf dem Schlacht­feld von Sedan das provozierende Frank­reich mit spielerischer Leich­tigkeit besiegt hatte, erlitt das Deutsche Reich auf dem Gebiet der Pro­pa­ganda eine bis auf den heutigen Tag nachwirkende schwere Niederlage. Das Adjektiv „preuß­isch“ wurde zu einem Sy­nonym von Unfrieden, Militaris­mus, Un­menschlichkeit, Klein­lichkeit, gleich­bedeutend mit einem diktatorischen System. Zu einem be­drü­cken­den Erbe, zu dem man sich nicht bekennen könne, dessen man sich schämen müsse.

„Die enormen Verän­de­rungen in der Welt können keine Ent­schuldigungen dafür sein, wenn man keinen Standpunkt oder keine Idee hat, wo man hingehört und wo man hin will.“

Helmut Kohl, 2011

Das Deutsche Kaiserreich erschaffende Preußen war der jüngste und modernste europäische Staat seiner Epoche. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete es – zuerst im Rahmen des Deutschen Bundes, dann innerhalb des Norddeutschen Bundes und schließlich unter seiner Führung im vereinten Deutschen Kaiserreich –, ähnlich wie andere Staaten Europas, eine konstitutionelle Monarchie, die ihren Staats­bürgern die wichtigsten Freiheits­rechte sicher­te, ihnen Rechtssicher­heit garantierte und ihren Alltag durch eine effizient arbeitende öffentliche Verwaltung erträglich machte.

Das in der Mitte Europas liegende neue Deutsche Reich war die gewaltige historische Leistung des Eisernen Kanzlers Otto von Bis­marck. Sie zeichnete sich auch dadurch aus, dass sie das Gründerland selbst überwand und die Deutschen zu einer vereinten Nation machte. Bismarck erschuf ein Reich, das mit seiner modernen Armee, seiner Industrie, seinem vorbildlichen Sozial- und Bildungssystem zum Musterland Europas und zugleich der ganzen Welt wurde.

Hier war das Wahlrecht am weitreichendsten, hier führte man für die Arbeitnehmer zum ersten Mal eine Kran­ken­ver­sicherung (1883), eine Unfallversicherung be­zie­hungs­weise eine Ver­s­i­cherung gegen Arbeits­lo­sigkeit sowie die Alters­ver­sicherung, das heißt die Renten­ver­sicherung (1889), ein. Bereits im Jahr 1853 hatte man die Beschäf­ti­gung von Kin­dern im Alter von unter zwölf Jahren verboten. „Geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm Versor­gung, wenn er alt ist“, forderte Reichskanzler Bismarck 1862 im Reichstag. Bis zum Aus­bruch des Ersten Welt­kriegs hatten sechzehn Millionen Men­schen eine Kran­ken- und Ren­ten­ver­si­che­rung, und etwa acht­undzwanzig Mil­lio­­nen eine Versicherung gegen Industrieunfälle abgeschlossen. Das Deut­sche Kaiserreich wurde bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zur führenden Wirtschafts­macht Euro­pas. Die In­dustrie­pro­duktion des Landes hatte sich im Zeitraum zwischen 1870 und 1913 verachtfacht, während sich jene Groß­britanniens, das als führende Macht der Welt galt, lediglich verdoppelt und jene Fran­k­reichs verdreifacht hatte. Im Bereich der Stahlpro­duk­tion hatte Deutsch­land die Briten bereits im Jahre 1893 überholt, bis 1910 überflügelte auch der Eisen- und Stahlexport des Reiches den des Insellandes. Die deutsche Elektro­in­du­strie war für ein Drittel der weltweiten Strom­pro­duktion verantwortlich, was mehr war, als die britische und die amerikanische Strom­­­erzeugung zusammen. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges verfügte das Deutsche Kaiserreich über das best­entwickelte Wohl­fahrts­system der Welt.

Während des kurzen Bestehens der nach dem verlorenen Weltkrieg entstandenen Weimarer Republik erlebte Deutschland gleich zwei Mal, dass seine Wirtschaft zusam­menbrach, seine nationale Währung ihren Wert verlor, sein einst so eng geflochtenes soziales Netz zerriss. Massenarbeitslosigkeit, eine ständige Führungskrise, eine Demokratie ohne Demokraten bildeten die Grund­lage der Wählerent­schei­dung, die Adolf Hitler und die Natio­nal­so­zialistische Deutsche Arbeiter­par­tei in die Regierungs­ver­antwortung katapultierte. Das Dritte Reich des Zeitraums 1933 bis 1945 und die von ihm begangenen schrecklichen Unmenschlich­keiten belasten die deutsche Ge­sell­schaft bis auf den heutigen Tag als eine nicht enden wollende Selbst­geißelung.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg zu sich kommende Bundesrepublik Deutschland betrachtete die sozialen Einrichtungen des Deutschen Kaiserreiches als ihr Vorbild, als sie mit dem Ausbau der Adenauer­schen-Erhardschen sozialen Markt­wirt­schaft die Grundlagen des Wohl­fahrtsstaates legte. Jenes soziale Versorgungssystem, dessen Fugen sich in den vergangenen Jahren auf so dramatische Weise zu lockern scheinen, war die epochale Erneue­rung des Bismarckschen Deutschen Rei­ches.

Über anderthalb Jahrhunderte hinweg bewunderte die Welt das deutsche Schulsystem. Vom Kin­der­garten bis zur Universität fand man hier die niveauvollsten und die beste Ausbildung garantierenden Institu­tio­nen. Den Stundenplan der preußischen Schulen und die An­for­derungen für die Abiturprüfungen erarbeitete und führte der Unter­richts- und Kultusminister des in den napoleonischen Kriegen verheerten Berlin, Wilhelm von Hum­boldt, ein.

„Wer Menschheit sagt, will betrügen.“

Carl Schmitt

Dieses Unterrichts­sys­tem sicherte den Hintergrund für jene gewaltige kulturelle und wissenschaftliche Leis­tung, die den Aufstieg Deutsch­lands ermöglichte. Die in den deutschen Schulen auf hohem Niveau gebotene Ausbil­dung überlebte zwei Weltkriege und die große Wirt­schafts­krise, doch ist sie als Ergebnis der Zerstörungen der achtundsechziger Generation heute endgültig zu Bo­den gestreckt worden. Deshalb befindet sich heute das Wissens­niveau der deutschen Schüler bei internationalen Leis­tungs­ver­glei­chen zwischen Liech­­ten­stein und Mexiko.

Die Achtundsechziger begeistern sich sehr stark für die ständige Ver­änderung von Unterricht und Er-zie­­hung, vor allem, um auf diese Weise die Zukunft der Gesell­schaft in die eigenen Hände nehmen zu können. Wenn jemand, dann sind sie es, die wirklich daran glauben, dass die menschliche Natur durch Unterricht und Erziehung mit Leichtigkeit veränderbar ist, und „die Erschaffung des Menschen neuen Typs“ – oder, wie wir das im Osten nannten: des sozialistischen Menschen – in kurzer Zeit möglich sein wird, wenn die Entschlo­s­sen­heit hierzu und die entsprechenden Metho­den vorhanden sind. Mög­li­cher­weise wären sie auch mit weniger als mit der Erschaffung des sozialistischen Menschen zufrieden gewesen, vielleicht wollten und wollen sie mit Hilfe des Unter­richts­systems nur die sozialen Unter­schiede ausmerzen.

Deshalb betrachten sie die Schu­len als eine Art Versuchslabor, in dem man sich mit der Behe­bung gesellschaftlicher Ungerech­tig­­keiten beschäftigt. Die­ses Ziel konnten sie trotz ständiger Re­form­attacken nicht erreichen. Ganz im Gegenteil: In den vergangenen anderthalb Jahr­hunderten war hinsichtlich der Mög­lichkeiten zum Weiterlernen der familiäre Hinter­grund noch nie derart bestimmend, wie es heute der Fall ist. Als Ergebnis der seit Jahrzehnten andauernden Reform­wut sind im deutschen Schulsystem gegenwärtig die von den Schülern erzielten Ergeb­nisse in erster Linie von ihrer sozialen Lage abhängig.

Vor den nach 1968 eingeführten Reformen war das deutsche Unter­richts- und Schulsystem leistungsorientiert. Die „fortschrittliche Pä­dagogik“ der achtundsechziger Gene­ration hat aber der Noten­dik­tatur und der Unterscheidung auf Grund erbrach­ter Leistungen den Krieg erklärt.

Es ist kein Wunder, wenn die deutschen Bildungsinstitutionen in großer Zahl schlecht, kaum oder gar nicht ausgebildete Jugendliche hervorbringen. Wie es Jan Fleisch­hauer in seinem Buch ausführlich darlegt (Unter Linken. Von einem der aus Versehen konservativ wurde, rororo, 2010), waren im Jahr 2010 rund 25 Prozent der deutschen Schüler von der Schule so abgegangen, dass sie weder auf einem ausreichenden Niveau rechnen noch schreiben oder lesen konnten. Die Situation ist besonders in jenen Bundesländern dramatisch, in denen der Unter­richt zum Experi-men­tierfeld der linksliberalen Reformer geworden ist wie in Hamburg, in Hessen und in Nordrhein-West­falen.
In diesen Regionen wird nicht nur das Modell der Gesamtschule angestrengt, sondern wird auch unter Hinweis auf Priorität der Integration die Differenzierung mit allen Mitteln verhindert, wobei man sogar die Beschränkung der gymnasialen Ausbildung auf zwei Jahre plant.
Laut der PISA-Studie aus dem Jahr 2006 führte bei 40 Prozent der deutschen Schüler ein Jahr Mathe­ma­tikunterricht zu keinerlei Leis­tungs­steigerung, bei weiteren acht Prozent stellte man eine Abnahme des Mathematikwissens fest. Ob­wohl an diesem Punkt die linken Erzie­hungsfachleute routine­mäßig auf die eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten verweisen, stellt Fleischhauer fest, dass Deutschland spezifisch genauso viel für den Unterricht ausgibt, wie das in den PISA-Studien als Spit­zen­­reiter ermittelte Finnland, das heißt pro Schüler jährlich 7000 Euro, was um 3000 Euro höher liegt, als der Durchschnitt der OECD-Länder.

„Womit erklären sie die Feigheit Westeuropas?“

Imre Kertész

Die PISA Ergebnisse deutscher Schüler sind im Jahr 2010 immer noch mittelmäßig, auch die Lesekompetenz liegt im Mittelfeld. Zwar ist festzustellen, dass sich Leistung der deutschen Schüler in den letzten Jahren verbessert hat, der Rückstand zu anderen Ländern ist jedoch kaum geringer geworden. (PISA-Studie Deutschland, 2010. Geringe Fortschritte; De­zem­ber 2010.) Ungarn steht leider auch nicht besser da: Jeder 6. Schüler galt laut Untersu­chungen als funktioneller Analphabet.

Die nunmehr Jahrzehnte dauernde „Demokratisierung“, das heißt Talfahrt, des deutschen Bildungs­systems hat zur Folge, dass es einer­seits zu wenige Spitzenkräfte gibt, andererseits zu viele Men­schen, die wegen des schwachen Bildungs­niveaus den Anschluss nicht mehr schaffen. All dies hat unmittelbar und auch mittelbar Auswirkungen auf den Arbeits­markt und engt die Grundlage des Innovations­potenzials auf beträchtliche Weise ein.
Die auf Gleichmacherei zielenden linksliberalen Vorstellungen in Bezug auf den Unterricht lassen das Individuum und jene Tatsache außer Acht, dass es Talentierte gibt, denen bei der Entfaltung ihrer Fähigkeiten geholfen werden muss, es aber auch solche gibt, die man dabei unterstützen muss, überhaupt das Tempo zu halten. Das Bemühen des Prinzips der Gleichbehandlung ist also nicht nur schädlich, sondern auch kont­ra­­produktiv. Es wäre gerade das Wesen des effektiven Unterrichts-, Aus­bildungs- und Erziehungs­sys­tems, dass wir mit den in die Schu­le kommenden Schülern nicht auf die gleiche Weise verfahren, sondern so sehr auf die Person zugeschnitten, wie dies nur möglich ist.

Die Doktrinäre der Achtund­sechziger haben auf die Frage des Umgangs mit den Problemen die schlechtesten Antworten gegeben, indem sie die Erwartungen, mit anderen Worten: das Niveau, konti­nuierlich gesenkt haben. Sie haben die Orthographie, die Satzkon­struktionen, die Aufgaben usw. vereinfacht. Deshalb bringt das Sys­tem scharenweise Halb-Analphabeten hervor. In den Diskus­sio­nen um die Frage der Lockerung der orthographischen Regeln und Anforderungen hatte man bereits in den siebziger Jahren Argumente formuliert, die in jeder Stand-up-Comedy unverändert ins Reper­toire hätten aufgenommen werden können. Zum Beispiel, dass das Erlernen und die Einhaltung der grammatischen Regeln die Schüler darauf dressiere auch die Praxis der Verteilung des Eigentums nicht in Frage zu stellen (Siegfried Jager, 1973). Oder: Damit wir den Schüler von den Traditionen losreißen können, ist es notwendig, ihn auch von der Erinnerung an das gewohnte Schriftbild zu befreien. Hierdurch werden wir ihn befähigen, sich zu seinen kulturellen Bindungen auf Distanz zu halten (Wolfgang Lempert, 1971).

Es mangelt nicht nur an der Notwendigkeit, sondern es ist geradezu unmodern, sich mit der Rechtschreibung herumzuschlagen und im modernen Deutschland die Schüler mit dieser zu belasten. Nach Auffassung der Achtund­sechziger ist der Leistungszwang bewiesenermaßen antidemokratisch. Deshalb haben ihre Unter­richtspolitiker den Noten, ja sogar den Bewertungen den Krieg erklärt. Das heißt, im heutigen Deutschland ist es nicht nur keine Schande faul, gleichgültig und ungeeignet zu sein, sondern dies wird geradezu erwartet. Melde gehorsamst, dieser Erwartung wird dann auch in immer weiteren Kreisen Genüge getan.

Wo sind die Zeiten, in denen man die Deutschen für gründlich, pünktlich, akkurat und fleißig gehalten hatte? Unlängst habe ich einige Tage in Hessen, einer der Hoch­burgen der linken Unter­richts­reformen, verbracht. In den dortigen Kleinstädten und Dörfern bin ich desinteressierten, gelangweilten und desillusionierten jungen Menschen und auch solchen mittleren Alters begegnet. Die Dienstleister, mit denen ich in Verbindung kam, waren – wenn es sich nicht um Ausländer handelte – unfreundlich, widerwillig und in einzelnen Fällen regelrecht unverschämt. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie beleidigt waren, weil sie arbeiten mussten. Auf den Straßen sah ich weder Kinder, Kinderwagen schiebende Eltern noch alte Leute. Im riesigen Ein­kaufszentrum in Wetzlar gibt es weder einen Spielzeugladen noch ein Geschäft für Kinderbekleidung. Ich konnte meinem Enkelkind hier kein Geschenk kaufen. Zum Glück hatten wir auf der Heimreise für einige Stunden einen Zwischen­stopp in Bamberg eingelegt. Es war, als ob wir einen anderen Kon­tinent betreten hätten. Angenehme Menschen, normales Leben. Bayern, ein Land, wo die Schulen noch in Ordnung sind, wo man Talente noch nicht verschwendet und wo auch Kindergeschäfte keine Rarität sind.

Einst, zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, studierten neuntausend Amerikaner an deutschen Universitäten. Als die Ame­ri­ka­ni­sche Wirtschaftsgesellschaft (Ame­rican Economic Association) gegründet wurde, hatten fünf ihrer sechs Begründer in Deutschland studiert, von den ersten sechsundzwanzig Präsidenten waren es mindestens zwanzig. Im Jahr 1906 hatten nach Angabe eines Pro­fessors der Universität Yale mehr als die Hälfte der führenden Ökonomen und Gesellschafts­wis­sen­schaftler der USA zumindest ein Jahr in Deutschland studiert. (Jonah Goldberg: Liberal Fascism – The Secret History of the Ame­rican Left, From Mussolini to the Politics of Meaning, S. 94.)

Wie viele Amerikaner, wie viele Ausländer wählen heutzutage eine deutsche Universität? Warum sollten sie dies auch tun? Nach der Zusammenstellung des Time Magazins vom 9. Oktober 2008 befindet sich unter den ersten fünfzig Hochschulinstitutionen weltweit keine einzige aus Deutsch­land. In die ersten Hundert schafften es gerade einmal zwei deutsche Universitäten: an der 57. Stelle findet sich die Universität Heidel­berg, an der 76. die von München. Auf den Rängen zwischen 137 und 190 finden sich eine Reihe deutscher Universitäten, die über eine große Vergangenheit verfügen und einst Weltniveau hatten, die Berliner Freie Universität, die Unis von Freiburg, Tübingen, Göttin­gen, Frankfurt am Main, die Ber­liner Technische Universität und die Universität Stuttgart.

Die selbstaufopfernde Haltung, zu der die deutschen Intellek­tuellen ihre Heimat zwingen, besitzt Seltenheitswert – dabei ist es möglicherweise korrekter, wenn ich statt Heimat den Begriff „Wirkungsraum“ benutze (beinahe hätte ich schon „Lebensraum“ geschrieben, doch habe ich es wegen der eventuellen negativen Konno­tationen lieber gelassen). Auch bei uns in Ungarn gibt es Achtund­sechziger, und es finden sich auch einige linksliberale Intellektuelle, natürlich sind auch sie doktrinär und bigott, doch sind von ihnen nur sehr wenige derart unpatriotisch wie ihre deutschen Vorbilder, und was noch viel wichtiger ist: ihnen gelang es nicht in dem Maße, die Selbstverteidigungsreflexe der ungarischen Gesellschaft zu eliminieren, wie dies ihren deutschen Gesinnungsgenossen gelungen ist.

Die Zerstörungen, die das seit Jahrzehnten wirkende Terror­sys­tem der linksliberalen Intelligenz Deutschland zufügt, sind entsetzlich. In Deutschland unterwirft sich inzwischen fast jeder und passt sich an. Denn selbst der kleinste Verstoß gegen die politisch korrekte Sprache wird gnadenlos bestraft. Nicht zufällig hat der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew, der als Samisdat-Autor die Beschaffen­heit der sowjetischen Zensur am eigenen Leib erfahren konnte, festgestellt, dass der Kanon des politisch Korrekten nichts anderes ist, als eine Form der Zensur.

Achtundsechziger (1)

„Mensch, der die
eigene Postpubertät für die bedeutendste Wende der Weltge­schichte hält.“

Achtundsechziger (2)

„Mensch, der sich
von seinem antiwestlichen, antisemitischen Vater emanzipiert hat und seitdem unentwegt Amerika und Israel anschuldigt.“

(Joffe: Schöner Denken.
Wie man Politisch unkorrekt ist.
Piper, München, Zürich, 2010, S.15)

Wer es also in Deutschland wagt, einen selbständigen Gedanken zu formulieren, wer eine vom Mainstream abweichende Meinung über ir­gend­­etwas hat – und diese auch deutlich macht –, kann mit Sicher­heit damit rechnen, dass die linksliberalen geistigen Terrorbrigaden geschlossen über ihn herfallen und nicht ruhen, ehe diese Person erledigt worden ist (Merz, Nolte, Sarazzin, Walser usw.). Im heutigen Deutschland, das sich für ach so demokratisch hält, ist es um die Meinungsfreiheit viel schlimmer bestellt als im Ungarn der achtziger Jahre unter dem Regime János Kádárs, dabei gab es dort noch die Zensur des Parteistaates. Die tonangebenden Meinungsmacher in Deutschland und ihre politischen Vertreter liefen Ende 2010 gegen das neue ungarische Mediengesetz Sturm. Sie sollten doch besser einen Blick darauf werfen, wie frei und in welcher Vielfalt verschiedenste Meinun­gen in Ungarn geäußert werden können.

Deutschland hat mit einer schwerwiegenden Identitätskrise zu kämpfen. Ich akzeptiere ja, dass es weder nach dem verlorenen Ersten noch nach dem Zweiten Weltkrieg die Kraft hatte, den Deutungsrahmen der Sieger zu lockern. Ein Jahrhundert nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und zwei Jahrzehnte nach der dritten, „Kalter Krieg“ genannten, Kraftprobe haben die Deutschen noch immer keine eigene Dar­stellung des zwanzigsten Jahr­hunderts. Sie sind außerstande, sich aus der falschen und irreführenden Welt der Gegensatzpaare von Täter und Opfer, unschuldig und schuldig, Verlierer und Sieger zu befreien.

Das 21. Jahrhundert hat Europa schon jetzt vor solche Heraus­forderungen gestellt, denen wir nicht gewachsen sein werden, solange sich das stärkste Land Europas vom 20. Jahrhundert gefangen halten lässt und in weiterer Folge auch uns gefangenhält. Deutschland ist die stärkste Volks­wirtschaft der Europäischen Union, das drittreichste Land der Welt. Die offizielle Armutsschwelle liegt monatlich bei 930 Euro, was beinahe zweimal so viel ist wie das ungarische Durchschnittsein­kom­men, wobei die Armutsschwelle in Ungarn bei 55-60.000 Forint, das heißt bei etwa 220 Euro pro Person und Monat, liegt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg trotz der Zerstörungen binnen eines Jahrzehnts an die zweite Stelle des Welthandels hochgearbeitet. Sie ist wie der Phönix aus der Asche aufgestiegen, wie dies Edgar Wolfram so treffend formuliert hat. Allerdings: Zwar hat sie ihre Wirtschaft in Rekordzeit wieder auf die Beine gestellt, die Seelen ihrer Bürger konnte sie aber immer noch nicht heilen und aufbauen. Auf den Grabstein der deutschen Seele würde ich folgendes schreiben: Erstickt im Würgegriff ihrer linken Elite und dem der Holo­caust-Rituale.

Die Achtundsechziger sind eine vaterlose Generation. Nicht nur, weil nach dem Zweiten Weltkrieg jedes zehnte Kind außerhalb einer Ehe geboren worden ist, da ja die Väter nicht aus dem Krieg zurück-gekehrt waren oder erst Jahre später aus der Gefangenschaft kamen. Von allen in den Jahren 1916-25 geborenen männlichen Deutschen sind zwei von fünf gefallen, gestorben oder verschwunden. Elf Millio­nen ehemalige Wehrmacht-Sol­da­ten gerieten in Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Nach den neuesten For­schungen sind 5,3 Millionen Sol­daten gefallen beziehungsweise in der Gefan­genschaft umgekommen. Die Zahl der zivilen Opfer beträgt etwa eine Million. Den Entbeh­run­gen und den Hungers­nöten nach dem Krieg fielen etwa 9 Millionen Men­schen zum Opfer.

Wir haben bislang noch nicht jener Deutschen gedacht, die in vielen Fällen unschuldige Opfer der Rache nach dem Krieg wurden. Wir haben nicht von den deutschen Kriegsgefangenen gesprochen, die vorsätzlich umgebracht wurden, nicht von den Plänen, Deutschland von der Landkarte verschwinden zu lassen, dieses Land zu deindustrialisieren und einen Teil seiner Bevölkerung nach Afrika zu verbannen. Oder davon, dass es einen Plan gab, das Trinkwasser von Nürnberg zu vergiften, um auf diese Weise die Einwohner der Stadt umzubringen. Es ist kaum darüber gesprochen worden, welch grausame Massenmorde „einfache“ Polen und Tschechen in Schlesien und im Sudetenland unter den dort lebenden Deutschen anrichteten. Und man erinnert auch nicht daran, dass Edvard Beneš, der erst dann zur Verteidigung seiner Heimat aufrief, nachdem er ins Ausland gegangen war, im Jahr 1945 den Deutschen im Radio drohte: „Wehe euch, dreimal wehe! Wir werden euch ausrotten!“. Jene barbarische Gnadenlosigkeit, die sich die Tschechen gegenüber den Deutschen nach dem Krieg erlaubten, ist nur mit der der Nazis zu vergleichen.

Anscheinend haben sich die Tschechen wegen der deutschen Besetzung und wegen ihrer eigenen kollaborierenden Haltung auf eine Weise gerächt, dass sie ihren niederträchtigsten Trieben gegenüber den wehrlos gewordenen und ausgelieferten, durch andere Mächte besiegten Deutschen freien Lauf gelassen haben. Schulen wurden zu Folterkammern umfunktioniert. In das Prager Strahov-Stadion brachte man etwa 15.000 Deutsche. Dort machten sich die tschechischen Wächter einen Spaß daraus, den Deutschen zu befehlen, sie sollen um ihr Leben rennen, während sie von Maschinengewehrsalven niedergemäht wurden.

Jedes vierte deutsche Kind wuchs ohne Vater auf

Im Jahr 1953 arbeiteten noch immer drei Millionen Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter in der Sowjetunion. Jedes vierte deutsche Kind wuchs ohne Vater auf. Selbst Kinder, die Väter hatten, konnten meist nicht viel mit ihnen anfangen. Und wollten es auch gar nicht. Die Traumata des Krieges, der Front, der Gefangenschaft und des gigantischen Neuanfangs konnten weder gelindert, noch aufgelöst werden, da keines dieser Traumata ausgesprochen werden konnte. Es wurde keine Trauerarbeit geleistet. Auf Fragen gab es keine Antworten. Alles und jeden ummantelte das Schweigen und Verschweigen. Die Generation der Eltern wurde der jungen Generation fremd und blieb es auch. Sie war ihr peinlich, und das blieb auch so. Lauter potenzielle und tatsächliche Täter, deren Leben und Überleben eine unangenehme Tatsache war, selbst dann, wenn diese sie versorgten, aufzogen, bezahlten. Und selbst dann, wenn sie die BRD „eine postnazistische Rumpfrepublik unter amerikanischer Aufsicht“ (Mohr, S. 107.) wieder aufbauten, zum Wiedererblühen brachten. Selbst dann, wenn sie ihnen Wohlstand und soziale Sicherheit schufen. Doch die emotionale Identifikation zwischen den Generationen kam nicht zustande. Und diesen Zustand fehlender emotionaler Bindung hat die Generation der Söhne und Töchter auch auf das Land übertragen, auf jenes Land, das ihre Väter und Mütter für sie wieder aufgebaut hatten.

Die linksliberale Intelligenz in Deutschland ist arm an Emotionen und deshalb einsam, oder im neuen Sprachgebrauch: single, und natürlich arrogant, weil sie unglücklich ist. Aber auch ratlos, weil sie nicht einmal mehr weiß, wie sie all dies verändern könnte, denn alles ist genau so, wie sie es geplant hatte. Sie hat alles erreicht, was sie sich gewünscht hatte. Sie fährt Rad, schadet der Umwelt nicht, ist schlank und isst Biokost, außer, wenn sie irgendein teures Restaurant besucht, das gerade trendy ist. Sie besucht alternative Kunsthappenings, denen nur Blinde nicht ansehen, dass diese das authentischste Terrain für den Ausdruck der Solidarität mit den Unterdrückten sind. Vermutlich diente diesem Ziel auch, dass sich die Wintermode 2002/2003 in den Boutiquen von Berlin-Mitte mit der Neuen Deutschen Roten Armee Mode, Prada Meinhof, den Kollektionen des Terroristenschicks meldete. (Mohr, S. 123.).

All dies stellte und stellt für die Denkweise der politisch Korrekten natürlich kein Problem dar. Denn die Betonung liegt auf der Anpassung. Der Druck des Konformismus ist so stark, so sehr zu einer Lebensnotwendigkeit geworden, dass dafür nicht einmal die Selbstaufgabe ein zu hoher Preis zu sein scheint. Das Ergebnis ist das Fehlen von Familien und Kindern, von Enkeln, Eltern und Großeltern. Deutschland ist vom Aussterben bedroht. Seine Geburtenrate beträgt 1,35 Kinder pro Frau. Eine Nation, die sich selbst nicht reproduziert, kann nicht langfristig planen. Deshalb besitzt sie auch keine nationalen Interessen mehr (Spengler, Asia Times, 16. November 2011).

Schrittweise Besetzung der öffentlichen Ämter

Die Achtundsechziger-Generation hat im Laufe der siebziger Jahre schrittweise die Institutionen besetzt, allen voran Dingen die öffentlichen Ämter und Universitäten. Zwischen 1972 und 1979 nahm die Zahl der Professoren um 35 Prozent zu. Diese Stellen haben sie alle selbst besetzt. Bereits seit Jahrzehnten gehören ihnen alle Lehrstuhlleiterposten, Professorenstühle, sie stellen den Lehrstoff zusammen, sie wählen ihre Schüler aus, ernennen ihre Nachfolger. Sie beherrschen die Gesellschaftswissenschaften und die Medien. Es scheint sich Julius Langbehns Warnung aus dem Jahr 1891 zu bewahrheiten, wonach die Professoren die Nationalkrankheit Deutschlands darstellen.

Seit Jahrzehnten gibt die linksliberale intellektuelle Elite die Normen vor, genauer gesagt: sie selbst sind die Norm. Ihren Normen entsprechend wird zum allgemeinen Interesse, was ihren Zielen am besten dient. Die Linksliberalen sind unter anderem daran erkennbar, dass sie ihre egoistischen Interessen stets in eine riesige moralische Nebelwolke hüllen. Je edler das Ziel: Weltfrieden, atomkraftfreie Erde, aussterbende Rassen, Rechte der Tiere, Kinderarmut; der Kampf gegen Pädophilie, Frauenhass, Rassismus, Antisemitismus usw., je größer das moralische Gewese, das sie aufführen, desto offensichtlicher ist es, dass sie no