Schmidt Mária

Demokratisierung des Wissens – Előadás Cadenabbiában a „100 Jahre Erster Weltkrieg – Perspektiven des nachwirkenden Jahrhunderts” c. konferencián

Demokratisierung des Wissens

„Als endlich die Zeit für Veränderungen in diesen Ländern
gekommen war, war das in erster Linie das Ergebnis ihres
eigenen Widerstandes.”

William F. Buckley


Wende? Systemwechsel? Systemveränderung? Systemumgestaltung? Warum sind wir nicht einmal in der Lage die Geschehnisse von 1989/90 zu benennen? Warum sprechen wir es nicht endlich aus, dass jenes wunderbare Jahr überall den Erfolg der antikommunistischen Revolutionen und der nationalen Freiheitskämpfe brachte, die für die Wiedererlangung der nationalen Selbstbestimmung geführt worden waren? Als das Volk überall gegen die kommunistische Diktatur aufstand, forderten Millionen von Bürgern die Unabhängigkeit, das Ende der sowjetischen Besetzung, eine nationale Selbstbestimmung und liberale Freiheitsrechte garantierende Demokratie. Und das Ende des Kommunismus, oder wie er von vielen in gemilderter Form genannt wurde: des realen Sozialismus. Die Polen hatten damals bereits schon ein Jahrzehnt zuvor bewiesen: ihnen reicht es. Die Bürger der baltischen Staaten demonstrierten Menschenketten bildend, singend. Die Bürger von Budapest, Berlin, Potsdam, Leipzig, Dresden, Magdeburg, Prag, Sofia, Zagreb zeigten auf Massendemonstrationen zu Hunderttausenden ihre Entschlossenheit und Kraft. Temeschwar und Bukarest vergossen ihr Blut für die Freiheit. Dies war das Jahr der Wunder, ein echtes „annus mirabilis”, in dem die DDR-Bürger mit ihren Füßen gegen das Weiterbestehen der DDR abstimmten und auf die Straßen gehend riefen „Wir sind das Volk!“ Die Ungarn gingen zu Hunderttausend auf die Straße, um gegen das Umleiten der Donau und das geplante Staustufensystem zu protestieren, um den nach Budapest zu Besuch kommenden Heiligen Vater: Papst Johannes Paul II. zu begrüßen, um gegen Ceaușescus Pläne zur Zerstörung der siebenbürgischen Dörfer zu demonstrieren, und schließlich, um für die Helden von 1956 eine würdige Bestattung durchzuführen. In den Jahren 1989–90 haben die Ungarn und die Völker der Region die Lenkung ihres Schicksals in die eigenen Hände genommen, sie waren nicht mehr bereit, die fremde Herrschaft zu erdulden und die durch diese ihnen aufgezwungene kommunistische Diktatur. Systemwechsel? Systemveränderung? Systemumgestaltung? Wende? Nein. Man nennt das Revolution.

Auch die Veränderungen waren revolutionärer Art. Statt fremder Besetzung nationale Unabhängigkeit, statt staatlichem und kollektivem Eigentum Privateigentum, statt des Einparteiensystems ein Mehrparteiensystem, freie Wahlen, die Durchsetzung liberaler Freiheitsrechte: Rede-, Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit beziehungsweise das Recht der freien Meinungsäußerung. Die siegreiche revolutionäre Welle ließ die Macht der Sowjets und den Kommunismus derart verschwinden, dass kaum noch sichtbare Spuren von ihnen übrig geblieben sind. Wir haben unsere Länder, unser Leben erneut in Besitz genommen.

Und doch ist es kein Zufall, dass viele das Geschehene bis heute nicht beim Namen nennen. Es scheint im Interesse vieler zu liegen, den Anschein zu stärken und diesen aufrechtzuerhalten, dass einst unser Schicksal schlicht nur von den Vereinbarungen innerhalb der Eliten abhing. Als resultiere daraus ein akzeptables Argument dafür, die Abwahl der alten Staatspartei und des Gefüges ihrer Elite sowie den Klärungsprozess hinsichtlich der Verantwortlichen sabotieren zu dürfen, wie dies dann auch tatsächlich geschah.

Die erste bittere Enttäuschung erlebten die osteuropäischen Teilnehmer der hiesigen antikommunistischen Revolutionen durch das Auftreten westeuropäischer Eliten, weil sie versuchten, postkommunistische Führungskräfte weiter an der Macht zu halten, und die Bestrebung unterstutzten einen wahren Akt der Gerechtigkeit und dadurch einen Prozess der Delegitimierung der kompromittierten postkommunistischen Akteure zu verhindern. Auch durch diese westeuropäische Unterstützung konnte die postkommunistische Elite bis in die jüngste Vergangenheit einen Großteil ihrer früheren Positionen in die neue Staatsform hinüberretten und auch halten.

Trotz allem darf jedoch nicht geleugnet werden, dass in jenen Jahren der Schicksals- und der politischen Wende ein Teil der ungarischen Elite ihre Prüfung bestanden hat. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass wir unsere Besten nicht in einem Bürgerkrieg verloren haben, wir unsere Energien nicht in gegeneinander gerichteten Kämpfen verschwendet haben. Das blutige und schreckliche Menschenopfer fordernde zwanzigste Jahrhundert hinter uns lassend haben wir nicht erneut das Blut unserer Landsleute vergossen, haben niemanden in die Emigration gezwungen, haben keine erneuten Verluste an Menschenleben erlitten. Wir begnügten uns damit, dass unsere Revolution ein neues politisches System erschaffen hat und wir zugleich auch unsere nationale und dadurch unsere politische Unabhängigkeit zurückerlangten, wobei wir zur Kenntnis nahmen, dass die Veränderung der Gesellschaft nur, wenn überhaupt, langfristig möglich ist.
Das neue, unabhängige und demokratische Ungarn wurde jedoch weiterhin durch einen tiefen Spalt in zwei Lager geteilt. Während ein Teil unserer Gesellschaft innige Verbundenheit mit dem ehemaligen Parteistaat zeigte, bestand der andere Teil aus früheren Gegnern, aus Leuten, die die Diktatur erduldeten oder unter ihr zu leiden hatten. Nachdem ein wesentlicher Teil der Elite der früheren Diktatur nach dem friedlichen Übergang seine früher erworbenen und genossenen Positionen in der Wirtschaft und der Gesellschaft auch weiterhin behalten konnte (das heißt: im Jahre 2009, also vor dem Amtsantritt der zweiten Orbán-Regierung war noch jeder dritte Akteur der politischen Elite ein ehemaliges Mitglied der früheren Staatspartei, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei), erfolgte nun ihrerseits als nächster Schritt, die wahre, die verbrecherische Natur der ehemaligen Diktatur selbst zu leugnen. Die größten Nutznießer kommunistischer Diktaturen – das wissen wir nur allzu gut – stammen neben den Mitgliedern der Nomenklatur aus den Reihen der Intellektuellen, derjenigen Gebildeten, die Verbrechen rechtfertigten, sie erklärten oder einfach abstritten. Nachdem das Monopol zur Deutung der Vergangenheit über ein halbes Jahrhundert das ihre gewesen war und alle wesentlichen Positionen der Wissenschaft und Medien weiterhin durch sie besetzt geblieben sind, hatten sie genügend Möglichkeiten, zu verhindern, dass all jene, die die Diktatur aufrecht erhalten hatten, zur Rechenschaft gezogen werden konnten – ja, vielmehr waren sie sogar im Stande, jedwede solche Bestrebungen lächerlich zu machen. Hier lag die Ursache des ersten so genannten Medienkrieges in den früheren neunziger Jahren. Auf Grund des Agierens der postkommunistischen Medienelite blieb die gesellschaftliche Katharsis, welche durch eine Konfrontation mit der kommunistischen Vergangenheit zu einer tief greifenden Verarbeitung der Zeit in der Diktatur hätte führen können, aus.

Die Aufarbeitung und die Bewältigung der Vergangenheit stellen ein äußerst schwieriges Unterfangen dar. Niemand ist erfreut, wenn man ihn mit Dingen konfrontiert, an die er sich nicht gerne erinnert. Wenn man einem Menschen unverantwortbare Verbrechen und Taten  vorhält, oder diese ihm nur ins Gedächtnis zurückruft, so empfindet er Unbehagen. Niemand mag es, wenn man ihm sein Schweigen, seine Mitleidslosigkeit oder seinen Verrat vor Augen führt. Es ist aber unsere Pflicht, die Verbrechen, die das Leben ganzer Generationen zerstörten, Millionen von Menschen erniedrigten und sie ihres Lebens, ihrer Angehörigen und ihrer Freiheit beraubten, aufzudecken. Es ist unsere Pflicht – wenn auch nachträglich – ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihr Andenken zu wahren.

 

Haus des Terrors Museum

 „Ein einziges Wort der Wahrheit wiegt schwerer als die gesamte Welt.“
          Solschenizyn

Über ein Dutzend Jahre lang warteten wir vergebens darauf, dass die Täter und Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Damit sie uns um Verzeihung bitten. Dann haben wir gehandelt. Wir wählten einen anderen Weg. Wir entschlossen uns, für die Opfer eine Gedenkstätte zu errichten. Ein Ort, an dem man zum Gedenken an die Verschleppten, die Deportierten, die Eingekerkerten, zum Andenken der Totgeschlagenen, Gequälten, Ermordeten, der Waisen und Witwen eine Kerze anzünden kann. Wir suchten daher einen Ort, der die beiden menschenverachtenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts – die Schreckensherrschaft der Nazis und jene der Kommunisten – in den Augen der ungarischen Gesellschaft am markantesten verkörpert. Im Herzen von Budapest, in einem auf den ersten Blick bedeutungslos erscheinenden Gebäude altbürgerlichen Stils aus dem 19. Jahrhundert, in der Andrássy Straße 60, fanden wir den Ort, der durch seine unheimliche historische Vorgeschichte geradezu mit dem Begriff des Terrors verschmolzen war.

An dem für beide Terrorregime symbolischen Ort in der Andrássy Straße 60 eröffneten wir am 24. Februar 2002 das „Museum Haus des Terrors“. Das Gebäude war zwischen dem 15. Oktober 1944 und 1956 ein wichtiger Schauplatz zweier Diktaturen. Hier hat sich die Partei der Pfeilkreuzler – Nationalsozialisten ungarischer Prägung – eingerichtet, und hierher wurde in den tragischen Wintermonaten 1944-1945 ein Teil der Opfer verschleppt. Kaum hatten die Pfeilkreuzler das Gebäude verlassen, im Januar 1945, machte die Staatspolizei der Kommunisten das Gebäude zu ihrem Hauptquartier und terrorisierte von diesem Haus aus mehr als zehn Jahre lang die ungarischen Bürger. Was in der Andrássy Straße 60 geschah, darüber durfte jahrzehntelang nicht gesprochen werden. So verschmolz in Ungarn das Haus selbst durch die historischen Erfahrungen und durch den Zwang zum Schweigen mit dem Begriff des Terrors. Zwar sind seither Generationen herangewachsen, die keine direkten Erfahrungen mit den beiden Terrorherrschaften gemacht haben, das historische Gedächtnis bewahrte aber auch für sie das tragische Andenken an dieses Haus. Das Gebäude tarnte sich jahrzehntelang ohne Erfolg als elegantes Bürohaus, denn jeder wusste, dass es nicht das war, wonach es aussah. Fußgänger wechselten bis zum Untergang des Kommunismus auf die andere Straßenseite, man wagte nicht einmal, sich das Haus genauer anzuschauen. Man verhielt sich dem Gebäude gegenüber ähnlich wie bei so vielen anderen bedrückenden Erbschaften der Vergangenheit, die unseren Alltag beherrschten. Es gehörte zu dem nicht geklärten, unver-arbeiteten Teil unserer Vergangenheit.

Wir haben das Gebäude, das an die staatlich verübten Verbrechen, an zwei totalitäre Regime erinnert, durch bauliche Maß-nahmen in seiner Umgebung hervorgehoben, damit für jeden sichtbar wird: dies war das Haus des Schreckens. In das breit gebaute Gesims schnitten wir die beiden Symbole der Diktaturen und das Wort Terror, so dass die Sonne sie als Schattenzeichen auf die grauen Mauern des Hauses wirft. Ein Schatten, der einst unseren Alltag verdunkelte. Doch die Schattenzeichen zerbrechen an den Konturen der Fassade, an der Gedenkstätte der Opfer beider Diktaturen. Denn sie besitzen keine Macht mehr. Das Haus ist schwarz umrahmt, als Zeichen der Trauer, damit jeder sehen kann: dies ist eine Gedenkstätte für die Opfer. Der Anblick erinnert zwar an die Zeit der Diktaturen, er gibt jedoch zugleich zu verstehen: die Zeit der Angst ist vorbei, wir können durch das Tor hineintreten, die Geheimnisse werden offenbart. Die Vergangenheit ist im Museum eingeschlossen.

Nach dem Eintritt empfangen zwei Granitblöcke den Gast. Ein schwarzer und ein roter. Der schwarze erinnert an die Opfer der Pfeilkreuzler, der rote an die Opfer des kommunistischen Terrors. Die inhaltlichen Eckpfeiler der Ausstellung sind zwei Ereignisse: die Besetzung des Landes durch die Nazis im Jahre 1944 und die darauf folgende Besetzung durch die Sowjets. Sie bilden den Anfang, und der Abzug der sowjetischen Truppen im Jahre 1991 schließt die Ausstellung ab. Diese Chronologie verleiht der Ausstellung ihren Rahmen, wobei in den Räumen zweier Etagen die wahre Natur des nationalsozialistischen und kommunistischen Terrors zwischen 1944 und 1963 dargestellt wird. Der rekonstruierte Keller erinnert an die gefürchteten Folterkammern, an das Gefängnis der ungarischen Nazis und der kommunistischen Staatspolizei. Er erinnert so auch an die Opfer beider totalitärer Diktaturen. An der „Wand der Täter“ hängen Bilder und stehen Namen von Verantwortlichen beider Terrorregime. Das Haus des Terrors Museum verarbeitet somit durch die Historie des Gebäudes in Wirklichkeit die Geschichte der ungarischen Diktaturen und Terrorregime.

Der Ort selbst besitzt nicht nur einen historischen Wert, sondern hat auch immense kommunikative Kraft, denn Opfer und Täter leben noch. Kinder und Enkelkinder werden oft durch die an der „Wand der Täter“ hängenden Fotos mit der verheimlichten Geschichte ihrer Familie und dadurch mit dem Schamgefühl konfrontiert. Die Historie, wie sie im Haus des Terrors Museum dargestellt wird, wurde in Ungarn öffentlich hier das erste Mal erzählt. Sie wurde davor weder in den Schulen unterrichtet, noch im gesellschaftlichen Diskurs thematisiert. Die Erinnerung an den Terror, an die angst- und leidvolle Vergangenheit verbreitete sich bis zur Eröffnung des Museums lediglich von Mund zu Mund, von den Eltern zu den Kindern. Zum ersten Mal ist sie an dieser Stelle ausgesprochen worden. Zum ersten Mal begegneten wir den unermesslichen Leiden einer Nation, die viel erlitten hat. Dies hatte eine traumatische Wirkung.

Sofort wurde das Haus des Terrors Museum zu einer Pilgerstätte. Diejenigen, die sich an die Opfer, an die Helden erinnern wollten, machten das Haus zu einer nationalen Gedenkstätte. Zu historischen Jahrestagen versammeln sich gewaltige Massen um das Museum, in ihren Händen Kerzen des Andenkens haltend. Denn es gibt jetzt einen Ort hierfür. Für die gemeinsame Erinnerung. Das gemeinsame Erinnern, das kollektive Erleben des gemeinschaftlichen Schicksals stärkt das gegenseitige Ver-trauen. Wenn jemand an unserem Leid Anteil hat, und wir an seinem Leid Teil haben können, wird die Verarbeitung der Trauer leichter, es hilft das Unverarbeitbare zu verarbeiten.

Seit seiner Eröffnung steht das Museum Haus des Terrors im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jeder hat sich dem Hause gegenüber seinen Standpunkt erarbeitet. Mehr als 10.000 Zeitungsartikel beschäftigten sich mit dem Museum, Fernseh- und Radiosender brachten zahllose Beiträge. Auch die ausländische Presse widmete dem Haus des Terrors große Aufmerksamkeit. Weltweit erreichte die Nachricht Milliarden von Menschen, in allen ehemaligen sozialistischen Ländern wurden längere Dokumentarfilme über das Budapester Museum Haus des Terrors gesendet. Mit der Schaffung des Museums erreichten wir mehr, als wir uns jemals erhofft hatten. Es scheint, dass die Wunden durch den Kontakt mit der freien Luft zu heilen begannen.

Die durch uns dargestellte Historie ist ungarische Geschichte. Ungarn sind Täter und auch Opfer. Wir machten keinen Unterschied bezüglich Abstammung, Religion oder Klassenherkunft. Nach unserer Auffassung zieht sich die klare Trennlinie lediglich zwischen Tätern und Opfern. Unserer Auffassung nach ist die Tatsache, dass dieser Teil der Vergangenheit in einem Museum vorgestellt werden kann, ein Zeichen für unsere Hoffnung, dass wir diese Vergangenheit überwunden haben, dass all dies nicht mehr unser heutiges Leben beeinflusst.

Eine weitere gravierende Bedeutung unseres Projekts – und das wurde uns in der relativ kurzen Zeit seit der Eröffnung bestätigt – besteht darin, dass mit der Schaffung des Museums eine breit angelegte Diskussion, ein Gedankenaustausch über die vorgestellten Epochen in Gang gesetzt wurde. Eine Diskussion über die Beteiligten und über die unumgänglichen Fragen der persönlichen Stellungnahme zu dieser Vergangenheit.

Die Besucherzahlen sind enorm, wenn man bedenkt, dass sich über 4.000.000 Gäste die Ausstellung anschauten, das heißt: fast jeder 2. Ungar hat unser Museum besucht. Die einfache, jedoch zugleich wirksame und sehenswürdige Präsentation vergrößerte die Zielgruppe auf bemerkenswerte Weise. Eine enorme Zahl von Schülern, ganze Klassen besuchen unter Leitung ihrer Lehrer das Museum. Nach der Besichtigung der Ausstellung bieten ältere Besucher dem Museum oft persönliche Gegenstände oder die wohl gehüteten Familiendokumente und Fotos zur Aufbewahrung an. Es sind Dokumente, die jahrzehntelang versteckt worden waren, doch nach Besichtigung der Ausstellung sind die Gäste überzeugt, dass das Museum der geeignete Ort zur Aufbewahrung dieser Familienreliquien ist. Die Befragung noch lebender Opfer oder ihrer Familienmitglieder sowie derjenigen Personen, die bei den geschilderten Ereignissen eine Rolle spielten, gehört zu den wichtigen Aufgaben des Museums. Die Zeugen zu Wort kommen zu lassen, ist eine Aufgabe, die durch unsere von Tag zu Tag wachsende Sammlung gefilmter Interviews bewältigt wird.

Die Besichtigung des Museums Haus des Terrors gehört auch zu den Zielen der nach Ungarn kommenden Touristen. Nachdem sie die Ausstellung besichtigt haben, verstehen sie uns besser. Jene, die aus Ländern nach Ungarn kommen, die keine ähnlichen Erfahrungen mit Diktaturen gemacht haben, können sich ein Bild davon machen, was wir im vergangenen Jahrhundert durchgemacht haben. Und die anderen erkennen ihre eigenen Erfahrungen wieder. Auf Unverständnis stießen und stoßen wir lediglich unter den westlichen, in erster Linie deutschen Mitarbeitern der Medien und linken Intellektuellen. Obwohl die eine Hälfte Deutschlands, so wie wir, zwei Diktaturen hatte erleiden müssen, nahmen und nehmen sie gegenüber jeder unserer Bestrebung eine abweisende Haltung ein, die auf die Aufdeckung und die Beschreibung des wahren Charakters der kommunistischen Vergangenheit abzielte. Das Museum Haus des Terrors hat in der deutschen Mainstreampresse nur negative Kritiken erhalten. Fokuspunkt ständiger Angriffe war und ist die Tatsache, dass sich die Ausstellung nur zum Teil der Tragödie des Holocaust‘ widmet, dass die Gräueltaten zweier totalitären Regime – bedingt durch die Historie des Gebäudes – nebeneinander stehen. Die Existenz eines sich ausschließlich dem Holocaust widmenden, im gleichen Jahr gegründeten Budapester Museums wird einfach ignoriert.

 

Haus der Lebensfaden

„Das Bekennen des Mordes und das Ermessen
des Verlustes  ist der Beginn jedes großen
 Lebens, auch jenes der Nationen.”

        Imre Kertész


Die Erschaffung einer erlebbaren, nachfühlbaren Ausstellungssprache, welche auf gemeinsames  Erfahrungsgut baut, ist ein Weg zur Demokratisierung des Wissens. Die Vergangenheit  gehört uns allen, aus den gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen ihrer wächst Identität, aus ihr stammen alle lebenswichtigen Lehren, sie darf nicht in ein entfremdendes fachmännisches Gewand eingehüllt werden. Diese eiskalte, als Objektiv bezeichnete Distanz zwischen Menschen und Geschichte wurde im Falle des Budapester Holocaust Museums mit Desinteresse bestraft. Im Gegensatz zu dem Museum Haus des Terrors, das bewusst für den Besucher des 21. Jahrhunderts konzipiert wurde, und eine neue Sprache erschuf, ist die Ausstellung des Budapester Holocaust Museums in der Páva Strasse von sogenannten wissenschaftlichen Fachleuten zusammengestellt worden. Das Urteil über die  durch eine Überflutung von Daten, durch eine Orgie von Texten und Exponaten kaum zu bewältigende Ausstellung fällten keineswegs akademische Kritiker, oder politische Akteure, sondern die Besucher. Jährlich sind es kaum 15 Tausend die es besuchen. Mit anderen Worten: die Ignoranz gemeinsamer  Erfahrungen und Erlebnissen, die Wahl einer elitären Betrachtungsweise und Sprache führte zur schmerzhaften Desinteresse seitens der Bevölkerung. Dies erkennend entschloss sich die zweite Orban-Regierung zur Errichtung einer neuen Gedenkstätte im ehemaligen Josefstädter Bahnhof, einem geschichtsträchtigen Ort. Die Aufgabe ein Ausstellungskonzept zu erarbeiten bekam das kreative Team des Museums Haus des Terrors, so gestatten Sie mir auch über das geplante „Haus der Lebensfäden“ einige vorstellende Gedanken zu äußern.

Das „Haus der Lebensfäden“ – auf Englisch „House of fates“ – besteht unseren Plänen nach aus drei Hauptbereichen. Aus einem Ausstellungs-, einem Unterrichts- und einem Ausbildungsbereich. Der Ausstellungsbereich besteht aus drei Einheiten. Aus der ständigen Ausstellung, die in etwa 50-60 Minuten besichtigt werden kann. Das Gebiet dieser Ausstellung werden wir elektronisch blockieren, damit die Besucher keinerlei elektronische Geräte gebrauchen können. Die hier erzählte Geschichte, die auf den Zeitraum zwischen 1938 und 1948 fokussiert und beinahe zur Gänze auf den Erinnerungen der Überlebenden basiert, muss die Besucher emotional berühren, ihr Interesse wecken und sie im Optimalfall anregen, Fragen zu stellen. Die Installation und die Erzählung hat in erster Linie die Altersklasse zwischen 14-24 Jahren im Visier. Nach der Begehung dieser Ausstellungseinheit kann der Besucher in den „Entdeckungsteil“ weitergehen oder sich die anderen „Kammer”-Ausstellungen ansehen. Nach dem Betreten des Entdeckungsteils erhält der Besucher ein Tablet oder kann eines erhalten, auf dem der interessierte Besucher das wichtigste mit dem Material der Ausstellung beziehungsweise der europäischen Geschichte des Holocaust in Zusammenhang stehende Faktenmaterial, Namen, Daten, ein Lexikon sowie auch Fragen und Aufgaben findet. Die Kammerausstellungen stellen – nach unseren Plänen – die Geschichte von Menschenrettern beziehungsweise jene der Vertreter des Widerstandes, weiterhin die des Schauplatzes: des Budapester Josefstädter Bahnhofs im Jahre 1944 sowie die Geschichte des Judentums in der Budapester Josefstadt vor. Hier werden wir auch die Wand der Täter und Verantwortlichen, beziehungsweise auch jene der Menschenretter platzieren. An mit Computern ausgerüsteten Arbeitsplätzen haben sie die Möglichkeit, weitere Informationen und Daten aus interaktiven Arbeitsplätzen zu sammeln.
Im Unterrichtszentrum planen wir Beschäftigungen für die Generation Y.
Wir erachten es als ebenfalls wichtig, den Lehrern ein Ausbildungsprogramm anzubieten.

 

„In der besseren Hälfte Europas blühte das süße Leben, der Wohlstand, das Glitzern von vierzig glücklichen Jahren ohne Verantwortung mit seinen einmaligen Möglichkeiten. Jetzt, da die Russen ihnen Osteuropa überlassen haben, beginnen auch dort die Probleme. Man nennt dies politische Ver-antwortung, die sie – im Wesentlichen – über vierzig Jahre hindurch niemandem gegenüber besaßen.“
                           Imre Kertész



Europa  - unsere gemeinsame Heimat

Hoffen wir, dass jenes Unverständnis und jene Zurückweisung, die wir im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der kom-munistischen Vergangenheit seitens der westeuropäischen und vor allen Dingen der deutschen linken Meinungsmacher bisher angetroffen haben, sich langsam wandeln werden. Hierzu gehört auch, dass in Strasbourg im Weiteren keine Urteile gefällt werden sollten, die das Recht der ungarischen Bürger von oben herab darauf streitig machen wollen, den roten Stern und das Hammer-und-Sichel-Symbol als verbotene Symbole der Diktatur zu betrachten und ihn zu verbieten. Wenn sie endlich die Gräueltaten von Nazis und Kommunisten auf gleiche Weise beurteilen, kann zwischen den beiden Hälften Europas der Dialog beginnen. Wenn sie endlich zur Kenntnis nehmen, dass jene schreckliche historische Erfahrung, die unsere Bürger nach 1944 durchgemacht haben, mindestens so wichtig ist, wie die Leiden der westeuropäischen Bürger im Zweiten Weltkrieg, können wir an den Punkt angelangen, im Rahmen eines gemeinsamen Europas weiterzudenken. Dies setzt aber natürlich auch voraus, dass sie ihre eigene Rolle einer Revision unterziehen. Warum und auf welche Weise haben sie Moskau assistiert, halfen und helfen mit, Moskaus und die Kommunisten schuldbelasteten Charakter zu verschleiern, ihn zu legitimieren. Solange dies nicht geschehen ist, können wir uns in Europa nicht heimisch fühlen.

Denn was für ein Europa wird das, das es nicht erlaubt, dass die Gesellschaften, die die kommunistische Diktatur eben erst hinter sich gelassen haben, ihre eigene, erlittene Vergangenheit mitnehmen dürfen? Sie wissen es genauso gut wie ich, dass der Mensch, die Gemeinschaft, die Nation, den oder die man der Vergangenheit beraubt, aufhört zu existieren. Auch ein gemeinsames Europa können wir nur in der Weise bauen, wenn wir unsere Geschichten gegenseitig anhören und Empathie für den Schmerz des anderen empfinden. Es ist die Aufgabe, die Narrative nicht derart einseitig weiterbestehen zu lassen, wie dies heute noch der Fall ist.