Schmidt Mária

Gyula Horn (1932-2013)

„Die Welt hat sich auf die Begriffe RECHTS und LINKS versteift und dabei vergessen, dass es auch ein OBEN und UNTEN gibt.”
Franz Werfel

„Vieles kann man erben, doch nicht den Mut.“
Jorge Luis Borges

„Verrat, Sire,  ist nur eine Frage des Datums!“
Talleyrand

Er war ein Junge aus der Vorstadt, der unter sehr bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Seine Schulbildung konnte er sich nur nach der Arbeit, an der Abendfachschule aneignen. Er ging ins Ausland, in die Sowjetunion, nach Rostow, um das Hochschulstudium zu absolvieren. Hier erhielt er im Jahre 1954 auch sein Diplom. Ein Jahr zuvor war er der kommunistischen Partei der Ungarischen Werktätigen (Magyar Dolgozók Pártja, MDP) beigetreten. Von hier aus war sein Weg im Einparteienstaat regelrecht eingebettet. Er arbeitete auf außenpolitischer Linie. Er wurde Diplomat, und kam dann unter die Lenker der Außenpolitik in die Parteizentrale.

Das erste Mal wurde ich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre auf ihn aufmerksam. Er sprach im Fernsehen über irgendetwas. Worüber, daran erinnere ich mich nicht mehr, sondern nur daran, dass er eine andere Sprache benutzte als die anderen Funktionäre.

Durch seine Person wurde mir bewusst, dass in Ungarn in der zweiten bis dritten Reihe eine neue Generation von Technokraten erschienen war, die bereits studiert hatte, die informiert, auch offen für die westliche Welt und zu mehr fähig war, als nur die im „Parteichinesisch“ verfassten Texten zu wiederholen. Diese Generation, deren talentiertester und erfahrenster Vertreter GyulaHorn war, hat unvergängliches Verdienst darin, dass Ungarn der Motor, der Vorantreiber und eines der erfolgreichsten Länder der politischen Wende und des Systemwechsels in Ostmitteleuropa sein konnte. Er war Außenpolitiker und blieb es auch. Dies spielte eine entscheidende Rolle dabei, dass er unter den sich schnell verändernden internationalen Verhältnissen der achtziger Jahre die neuen Möglichkeiten unserer Region und Ungarns richtig einschätzte. Obwohl er selbst sich kaum damit brüstete, so hat er doch in Wahrheit recht viel von János Kádár gelernt. Er hatte jene Kádársche Doktrin verstanden, verinnerlicht und blieb bis zum Ende seines Leben ihr Anhänger, die aus der relativen Kraftlosigkeit und dem Fehlen an Gewicht Ungarns eine Tugend schmiedend ab den siebziger Jahren bestrebt war, die möglichst entschlossene Vertretung der nationalen Interessen Ungarns durchzusetzen. Auf dem bipolaren Spielfeld bedeutete dies, auf den Umstand hinweisend, ja vielleicht sogar mit ihm erschreckend, dass die Ungarn, wie dies ja auch 1956 bewiesen hatte, Rebellen seien, bei den Sowjets im Rahmen von Verhandlungen Zugeständnisse für eine Sonderbehandlung Ungarns zu erreichen. Das heißt einerseits so häufig wie möglich wirtschaftliche Vorteile im Gegenzug für die geraubte Souveränität Ungarns aus ihnen herauszuholen, und andererseits das Land ihnen als eine Art Experimentierfeld anzubieten, wo man verschiedene „neue wirtschaftliche Mechanismen”, IMF- und Weltbank-Anschlüsse ausprobieren könne, damit im Falle des Erfolgs, das gesamte Lager und eventuell auch die Sowjetunion selbst davon profitieren könne. Und im Falle eines Misserfolges könne man die ungarische Parteiführung für diesen verantwortlich machen, während man zugleich mit keinem allzu großen politischen Risiko rechnen musste, denn wenn irgendwo, dann schien damals gerade bei uns in Ungarn das politische System recht stabil zu sein. Diese Rolle eines „Pilotprojekts”, die Ungarn in den letzten beiden Jahrzehnten des Sozialismus gespielt hatte, wirkte sich zum Beispiel recht befruchtend auf Deng Xiaoping aus, der selbst den Kádárschen Erfolg und dessen Rezept analysierend beziehungsweise anwendend China in die Reformära führte.

Horn kam aus dieser Schule. Er hatte verstanden, dass die Größe unseres Landes uns einengte und zugleich Möglichkeiten eröffnete, wenn wir geschickt und talentiert sind. Er war es. Erfolgreich und entschlossen erweiterte er unseren diplomatischen Spielraum, als er die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit solchen Ländern vorantrieb, die er über uns in die Politik der Region einbeziehen wollte. Als er erkannt hatte, dass sich das Kräfteverhältnis der Großmächte zu verändern begonnen hatte, zog er daraus die für uns wichtigen Schlussfolgerungen. Vor allen Dingen jene, dass wenn sich das Gleichgewicht der bipolaren Welt zugunsten der USA verschiebt, hieraus hinsichtlich Europas die Aufwertung Deutschlands folgt. Und dies macht die Regelung der deutschen Frage, das heißt die Wiedervereinigung unvermeidlich. Der Erkenntnis folgten Taten. Der Höhepunkt der Laufbahn Horns ist die Öffnung des Eisernen Vorhangs, die Öffnung der ungarischen Grenze für die deutschen Flüchtlinge, was selbstverständlich zur Liquidierung des kommunistischen Systems und zum Systemwechsel führte.

In beiden Belangen spielte er eine initiierende Rolle, so wie auch seine Generation und seine Genossen in Führungspositionen. Sie wussten es am besten, hatten sie doch schon seit langen Jahren ihn am Funktionieren erhalten, dass der Sozialismus nach einer langen Agonie schon lange klinisch tot war, mit anderen Worten: nicht mehr zu retten. Aus dieser Erkenntnis folgte, dass sie mit all ihrem Talent und ihrer Kraft daran arbeiteten, auch für die neue, demokratische Einrichtung unverzichtbar zu bleiben, auch im neuen System die Elite zu bleiben. Diese Bestrebung hatte zum Teil Erfolg.

Horn hatte eine der erfolgreichsten Parteien des Zeitraums seit dem Systemwechsel erschaffen, die Ungarische Sozialistische Partei (ung. Magyar Szocialista Párt, MSZP), deren Vorsitzender er von 1990 bis 1998 war. Er beging einen strategischen Fehler, als er nicht den Namen „sozialdemokratisch” für seine Partei in Anspruch nahm, was in vielerlei Hinsicht die Abtrennung der neuen Partei von ihrer Vergangenheit als Staatspartei und die Bestimmung ihrer alt-neuen Identität erleichtert hätte. Hierzu hätte er umso mehr die Möglichkeit gehabt, denn die Vorgängerin der USAP (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei, ung. MSZMP), war aus dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen und der kommunistischen Partei im Sommer des Jahres 1948 entstanden; die neue Partei hätte sich also darauf berufen können, dass sie nach der Trennung die sozialdemokratischen Traditionen fortsetzen möchten. Doch Horn hielt es für viel wichtiger, sich des organisatorischen und materiellen Vermächtnisses der MSZMP zu bemächtigen und dieses zu sichern, als sich mit irgendwelchen historischen und Legitimitätsfragen herumzuplagen, die er nie für wirklich wichtig gehalten hat.

In Rekordzeit erreichte er, dass nach der erniedrigenden Niederlage seiner Partei, der MSZP bei den ersten freien Wahlen, diese mit Unterstützung des aus der Opposition vor der Zeit des Systemwechsels entstandenen Bundes der Freien Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége) sowie der Hilfe der Demokratischen Charta (Demokratikus Charta) genannten antifaschistischen Gruppierung aus der politischen Quarantäne herauskommen konnte, in die seine Partei geraten war. Dass die Sozialisten in die Pariarolle gedrängt worden waren, hatte als Ursache, dass die ungarische Gesellschaft sich erst nach den ersten freien Wahlen mit all dem Leid, dem Schmutz, den Unmengen von Verbrechen konfrontiert sah, die die Führer und die Handlanger der Staatspartei belastete. All jene Sünden und Verbrechen, über die man in den Jahren der totalitären Diktatur nicht sprechen konnte, über die die der Diktatur dienende intellektuelle Elite verlogener Weise behauptete, solche wären niemals geschehen, oder wenn doch, dann seien dies richtige und nützliche Taten gewesen. Der viele Dreck, der Schmerz und die Trauer bedeckten die Sozialisten, die hierdurch verkrampften und nicht in der Lage waren, sich von den inakzeptablen und durch nichts zu rechtfertigenden Schrecken zu distanzieren. Anstatt dass sie in der Annahme der Wiedergutmachungsgesetze mit der Mehrheit des ersten frei gewählten Parlaments zusammengearbeitet hätten, mobilisierten sie ihren informellen Einfluss und ihre Medienmacht, um die Bestrebungen nach historischer Wiedergutmachung unmöglich zu machen. Sie zählten hierbei, und konnten auch darauf zählen, auf die Unterstützung durch die Angehörigen der SZDSZ (Bund der Freien Demokraten). Dabei stand gerade ihnen, angesichts ihrer Lage als Nachfolgepartei, weder die Rettung der Verantwortlichen für die Verbrechen der Staatsicherheitspolizei (ÁVH) noch die jener der Vergeltungen nach 1956, noch die Bagatellisierung ihrer Taten nicht gut. Der Wahlerfolg von 1994, der der von Gyula Horn geleiteten MSZP die absolute Mehrheit bescherte, verstärkte in Horn den Eindruck, dass sie auch ohne die Klärung ihres Verhältnisses zum ehemaligen System der Staatspartei zu gleichberechtigten Teilnehmern des demokratischen politischen Lebens werden könnten.

Gyula Horn war durch die Rolle, die er in der Revolution und dem Freiheitskampf von 1956 übernommen hatte, nicht in der Lage, sich dieser Frage ohne emotionale Befangenheit anzunähern. Welche Rolle er 1956 darüber hinaus gespielt hatte, dass er sich vom November 56 bis zum Juni 57 der so genannten kommunistischen „Steppjacken-Brigade“ angeschlossen und an der Niederschlagung der Revolution sowie der Verfolgung der Revolutionäre teilgenommen hat, harrt noch einer genaueren Spezifizierung. Als er seine Auszeichnung „Für den Dienst für die Arbeiter- und Bauernmacht“ erhielt, dürfte er seine Verdienste vermutlich als bedeutender hingestellt haben, als sie es in der Wirklichkeit tatsächlich gewesen waren, denn diese Medaille ging auch mit bedeutenden Vorteilen im Regime einher. Nach dem Sturz des Kádár-Systems stand die Bagatellisierung, ja sogar die Verleugnung seiner ehemaligen Rolle in seinem Interesse. Deshalb beschloss er, als er schon Ministerpräsident geworden war, die Auflösung der Kommission, die die Fälle des Jahres 1956 untersuchte, in denen Salvenfeuer auf die Zivilbevölkerung eröffnet worden war, zugleich behinderte er jedoch die Pflege des Kultus’ von 56 sowie deren gebührende Thematisierung nicht.

Gyula Horn war zwischen 1994-98 der Ministerpräsident Ungarns. Obwohl er über die zum Regieren ausreichende Parlamentsmehrheit verfügte, machte er dem schon in der Demokratischen Charta erprobten SZDSZ, dem Zweitplatzierten der Wahlen, ein Koalitionsangebot. Er entschied sich aus dem Grunde für die Einbeziehung der liberalen Freidemokraten, damit er sie und ihr Mediennetz, ihre ausländischen Verbindungen hinter sich wissen konnte, damit er mit Sicherheit eine über 2/3 hinausgehende Mehrheit in der Gesetzgebung hatte. Einen weiteren Nutzen erhoffte er sich daraus, dass er seine eigenen Parteigenossen mit dem Verweis auf den SZDSZ an der Kandare halten konnte, während er sich darauf vorbereitete, den SZDSZ im Laufe der gemeinsamen Regierung amortisieren zu können. Dies galt als Lohn dafür, dass jene liberalen Intellektuellen ihre ihm gegenüber empfundene Verachtung keine Sekunde verhüllten, und nie einen Hell aus ihrer Überzeugung machten, , dass es im Grunde auf sie ankommt, ob die doch ziemlich „rüpelhaften” ehemaligen Kommunisten in die „besseren Salons” Einlass gewährt bekommen. Diesen herablassenden und belehrenden Ton honorierte Horn damit, dass er im Laufe des ihm zur Verfügung stehenden Zyklus’ das sich einst zu Höherem berufen fühlende „intellektuelle Reservoir” von einer mittleren in eine kleine Partei und zur stumpfen Hilfstruppe der MSZP reduzierte.

Als Ministerpräsident erwies er sich als eine entschlossene und gute Führungspersönlichkeit. Obwohl die Sozialisten, wie schon bereits im Zeitraum der als „spontan“ bezeichneten Privatisierung so auch jetzt unter seiner Regierung dem aus- und inländischen Kapital mit großer Bereitschaft Handlangerdienste leisteten, gelang es ihm glaubhaft zu machen, er würde die Interessen der „kleinen Leute“ vertreten, , denn er sei ja auch einer von ihnen. Er setzte durch, dass die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für die über 65 Jährigen kostenlos wurde, was er, geleitet durch eine spontane Idee, auch auf die Flugreisen ausweiten wollte. Es war auch sein riesiger politischer Erfolg, dass er das von ihm eingeführte brutale Sparpaket, das Generationen „zahnlos“ machte, weil die kostenlose zahnärztliche Betreuung gestrichen wurde, nach seinem Finanzminister als Bokros-Paket benennen ließ, und er sich mit den Labeln des Stabilisierers, des verantwortungsvoll Wirtschaftenden, des Gründers einer neuen Wachstumsperiode begnügte. Er achtete sogar darauf, dass der von ihm als sehr talentiert eingeschätzte Viktor Orbán, die junge Führungspersönlichkeit der damals kleinsten Oppositionspartei, der FIDESZ (Bund der Jungen Demokraten), die leitende Position im Parlamentsausschuss für die europäische Integration erhielt, damit Orbán das europäische Terrain kennen lernen und außenpolitische Erfahrungen sammeln konnte.

Als die FIDESZ die 1998-er Wahlen gewann und mit der Partei der Kleinen Landwirte (FKGP) eine Koalitionsregierung bildete, trat Horn von seinem Posten als Parteivorsitzender zurück. Unter der Orbán-Regierung bereiste er als persönlicher Beauftragter des Ministerpräsidenten die Welt, um für die Regierung und seine Heimat die Unterstützung sozialistischer politischer Kräfte zu sichern. Und wenn auch nach dem Rücktritt Horns die Sozialisten zwischen 2002-2010 noch über zwei Amtsperioden hinweg gemeinsam mit den Freidemokraten regierten, so gelang es ihnen nicht noch einmal eine Führungspersönlichkeit mit solchen Qualitäten zu finden, wie Gyula Horn sie besass.

Horn war kein Intellektueller und wollte auch gar nicht als ein solcher erscheinen. Er war ein professioneller Politiker, der die Partei-, die Außen- und die Innenpolitik verstand. Er hatte hierfür die entsprechenden Schulen besucht, hatte die entsprechende Laufbahn beschritten. Bis er in die Lage kam, zwischen 1989-1998 Entscheidungen treffen zu können, war er der richtige Mann am richtigen Ort. Als er es musste und er die Möglichkeit dazu hatte, tat er, was die Heimat von ihm verlangte.