Schmidt Mária

Gemeinsamer Erfolg

1789. 1871. 1989. Drei Jahreszahlen, drei Meilensteine. Von der ersten, von der französischen Revolution und der Geburt der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte an sprechen wir von der modernen Zeit. Ihre epochale Bedeutung wurde nach Ansicht des einstigen Regierungs- chefs des britischen Weltreichs, Disraeli, zugleich durch das im Jahre 1871 aus der Taufe gehobene Deutsche Kaiserreich überstrahlt, das am 18. Januar in Versailles, im Spiegelsaal des prunkvollen Schlosses des Sonnenkönigs, Ludwig XIV., am symbolischen Ort der französischen Großmachtbestrebungen, ausgerufen wurde.

Zweihundert Jahre nach der französischen Revolution ereigneten sich im Jahre 1989 erneut Geschehnisse von weltgeschichtlicher Bedeutung. Der 1914 ausgebrochene erneute hundertjährige Krieg ging zu Ende, die bipolare Welt hörte auf zu existieren, das sowjetische Imperium brach zusammen, wir bauten den Eisernen Vorhang und die Berliner Mauer ab. Als Ergebnis all dessen vereinig- te sich Deutschland und auch Europa wieder. In unserer Region vollzogen sich eine antikommunistische Revo- lution und die nationale Wiedergeburt. In jenen Tagen vor einem Vierteljahrhundert brach also gleichzeitig ein neues Zeitalter an und das sich wiedervereinigende Deutschland nahm seinen Platz in der Mitte Europas ein.

Jene Generationen, die dies alles vor fünfundzwanzig Jahren selbst durchlebt haben, waren sich dessen bewusst, dass sie an Ereignissen teilnehmen, die den Gang der Geschichte beeinflussen, und ebenso wussten dies auch jene, die die damaligen Geschehnisse formten und die Entwicklungen weiterführten, dass sie mit ihren Taten Geschichte schrieben. Die Rede des jungen Viktor Orbán auf der Gedenkfeier zur Umbettung von Imre Nagy und seiner Mitmärtyrer auf dem Budapester Heldenplatz, die im tobenden Sturm zerrissene Rede von Präsident Bush auf dem Kossuth-Platz vor dem Parlament, die Tränen des Glücks der ostdeutschen Flüchtlinge, als sie den Boden Österreichs betretend an der Freiheit schnuppern konnten, der triumphierende Blick der auf die Berliner Mauer kletternden Jugendlichen sind zu unser aller Erlebnisse geworden, die wir  niemals vergessen werden. Ihr Freiheitserlebnis und ihr Sieg sind zum Sieg von uns allen, zur gemeinsamen Errungenschaft, zum gemeinsamen Erfolg der sich nach Freiheit sehnenden Nationen der Region geworden.

Jene, die die damaligen Ereignisse formten, sind zu unseren gemeinsamen Helden geworden. Unter  ihnen ragt nicht nur wegen seiner Statur der in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag feiernde Helmut Kohl, der Vater der deutschen Einheit, heraus.

Mit unserer heutigen Konferenz wollen wir, Ungarn, uns vor jenem Helmut Kohl verneigen, dem unsere Region ihren Anschluss an die Europäische Union verdankt. Für uns ist Helmut Kohl in erster Linie als der Mensch von Bedeutung, der Europa wiedervereinigt hat. Wir betrachten ihn als den Kanzler Europas, das heißt, bis zu einem gewissen Grade haben wir auf ihn immer als einen der Unseren geblickt. Dieses Amt haben wir ihm aus Liebe und Anerkennung verliehen, denn er war immer unser Freund und der Unterstützer unserer Angele- genheiten. Und auch wir haben ihm keinen Grund zur Enttäuschung gegeben.

Ich habe viel darüber nachgedacht, was der Grund dafür sein mag, dass die historische Rolle Kohls in seiner Heimat, in Europa, in der westlichen  Welt  also, nicht auf gebührende Weise gewürdigt wurde und auch nicht gewürdigt wird. So wie auch der von ihm als das „GlückEuropas“ bezeichnete Präsident Bush nicht die Anerkennung erhält, die seiner Leistung zusteht. Natür- lich nicht von Seiten der Menschen, denn diese lieben und verehren sie, Zuhause und im Ausland gleicherma- ßen. Ich hatte das große Glück, mit beiden, mit Bundeskanzler Kohl und Präsident George Bush, mehrere Tage als ihre Begleitung verbringen zu dürfen, als sie zur Jahrtausendwende Budapest besuchten. Die Menschen applaudierten ihnen, wo immer  sie  auch  erschienen, auf der Straße, in den Restaurants, auf dem Flughafen. Die Ungarn stehen nicht gerne  wartend  an  der  Seite der Straße, bis ein offizieller Konvoi an ihnen vorbeifährt, doch in ihrem Falle begannen die Menschen, als sie erfuhren, wer in den Autos saß, zu applaudieren. Die Anerkennung und das Lob verweigern ihnen also jene politische und Medieneliten, die auf bestimmende Weise darüber herrscht, was im Westen thematisiert werden kann. Und diese Elite ist in entscheidendem Maße politisch links gesinnt. Der Anteil jener unter ihnen, die mit 1968 und den 68ern verbunden sind, ist nicht unerheblich. Und unter ihnen die einstigen Maoisten, Trotzkisten, Kommunisten. Diese Leute haben nämlich bis auf den heutigen Tag jenen Schlag nicht verwinden können, den sie vor einem Vierteljahrhundert haben erleiden müssen. Vergeblich gingen sie statt Kohl und Bush mit Gorbatschow wie mit einem Star um, indem sie hoffer würde mit seinen Reformen endlich jenen Sozialismus mit menschlichem Antlitz verwirklichen, auf den sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehoff hatten und der so sehr cool gewesen wäre. Gorbatschow konnte allerdings nicht nur dem Sozialismus kein menschliches Antlitz verleihen, doch seine Perestroika und seine Glasnost kosteten das gesamte sowjetische Modell und – Gott sei es gedankt –, das sowjetische Imperium brach zusammen. An dessen Stelle siegten die von den erwähnten Eliten in Worten millionenfach begrabene nationale Unabhängigkeit, die abschätzig behandelte Marktwirtschaft und die Demokratie.  Die  Geschichte hat sich, ohne dabei sich um den von ihnen beschworenen Fortschritt zu kehren, off auf die Seite der christlich-konservativen politischen Kräfte gestellt und den Kommunismus auf den Misthaufen der Geschichte verbannt. Der Sieg von Kohl und Bush nahm der westlichen Linken das Versprechen der progressiven Zukunft, beraubte sie ihrer Illusionen. Dies ist es, was sie ihnen auch heute noch, 25 Jahre später, nicht verzeihen können. Sie sind es, die der Franzose Michel Houellebecq treff als „aussterbende progressistische Mumien“ bezeichnet und zugleich feststellt, während diese „als soziologisches Phänomen von der Bildfl verschwunden seien, […] hätten sie sich in die Zitadellen der Medien flüchten können“, und besitzen noch einen Teil ihres Einflusses.

Vor einem Vierteljahrhundert haben unsere Heimat und unsere Region ihre Freiheit und ihre nationale Unabhängigkeit zurückgewonnen. Wir haben den Kommunismus besiegt, die fremden Besatzer zum Zurückweichen gezwungen, um als freie und demokratische Länder in das 21. Jahrhundert treten zu können. Das alles, weil wir solche führenden Persönlichkeiten hatten, wie Hel- mut Kohl, der Deutschland und damit auch Europa wiedervereinigt hat.

Jacob  Burckhardt,  der  große  Schweizer  Historiker, führt in seinen WeltgeschichtlichenBetrachtungen aus, die die Geschichte gestaltenden Augenblicke würden durch Folgendes charakterisiert: „Allein, wenn die Stunde da ist und der wahre Stoff, so geht die Ansteckung mit elektri- scher Schnelle über Hunderte von Meilen und über Bevölkerungen der verschiedensten Art, die einander sonst kaum kennen. Die Botschaft geht durch die Luft, und in dem einen, worauf es ankommt, verstehen sie sich plötzlich alle, und wäre es auch nur ein dumpfes: »Es muss anders werden.«“

Die Botschaft war auch bei Helmut Kohl angekom- men. Und er hat sie sogleich verstanden. Er meinte, wir lebten in einer besonderen Zeit, und er erkannte und artikulierte, dass die bevorstehenden Jahre tiefe Spuren in der Geschichte hinterlassen würden. Solche Zeitalter sind selten, deshalb war es seine Überzeugung, dass es unverzeihbar wäre, wenn unentschlossen oder kraftlos gehandelt werde.

Wir verbeugen uns vor Helmut Kohl, der, als es möglich  war,  ja  als  es  notwendig  war,  mit geduldiger Entschiedenheit, entschlossen und klug handelte. Wenn er nicht so getan hätte, hätte er keine Geschichte geschrieben.