Schmidt Mária

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus’ - Zwei Jahrzehnte Demokratie in Ungarn

In Lakitelek waren Äpfel auf den Tischen und in den Körben. Bedenkt nur, was für ein Leben wir gehabt hatten, wenn uns schon das zu tiefst rührte.
Erzsébet Tóth, Lakitelek, 1989

 

Als wir die sogenannte weiche Diktatur hinter uns ließen und den abendteuerlichen Weg des Wendeprozesses einschlugen, waren wir voller Hoffnung. Wir wollten das Neue, denn unsere gesamte Kultur konditionierte uns regelrecht auf die ständige Begeisterung für das Neue, darauf, dass – wie es in der Internationale heißt – „reiner Tisch gemacht” werden kann, und auch gemacht werden muss. Fast ein halbes Jahrhundert lebten Ungarn in einer Welt von Informationen, die zuvor durch Informationspolitik der Diktatur, der Staatspartei streng ausgesiebt, gefiltert worden waren. Wir wussten, wir erlebten es tagtäglich, dass „sie“, die Machthaber „am Morgen lügen, zu Mittag lügen, am Abend lügen”, so glaubten wir, dass alles, was die Kommunisten über den Westen, über die USA, über die in der Welt ablaufenden Prozesse sagten, ebenso nur reine Verleumdung sei. Ganz im Gegensatz glaubten wir daher, die USA und Westeuropa seien ein wahres „Schlaraffenland”, wo ein jeder Mercedes fahre und seinen Urlaub auf den Bahamas verbringe. Ganz im Gegensatz wuchs in uns daher ein starkes Verlangen nach dem Westen, nach Freiheit und Wohlstand. Und es wuchs auch die Überzeugung es verdient zu haben, diesmal auf die Sonnenseite des Lebens zu gelangen, denn der Westen, der uns so oft allein gelassen und verraten hatte, schulde es uns einfach. Dabei hatten wir ihn doch vor Tataren, vor Türken beschützt, haben auch für ihn unter Nazis und Sowjets gelitten. Und auch den Eisernen Vorhang haben wir letztendlich für ihn abgerissen.

Im Jahre 1990 taumelten wir in die Freiheit und Unabhängigkeit hinein, in die Marktwirtschaft, das heißt in die Demokratie und den Kapitalismus. Die Ernüchterung kam schnell.  Die Westler kamen als neue Eroberer. Schließlich waren sie Sieger, sie hatten den Kalten Krieg gewonnen. Und sie gingen mit uns um, wie man es mit Besiegten zu tun pflegt. Für ein Butterbrot kauften sie unsere funktionstüchtigen Betriebe auf , in erster Linie kommunale Firmen, ansonsten brauchten sie nur unsere Märkte. Berater, „Anlagegurus”, die gerade in ihren Zwanzigern waren, verteilten Weisheiten im Akkord darüber, wie man Geschäfte machen, an der Börse spekulieren, leasen, feindlich übernehmen, investieren kann und muss. Sie und ihre Auftraggeber verdienten gut, so wie auch die wenigen ungarischen Mitbürger, über die sie ihre Angelegenheiten erledigten.

Der Sozialismus war zusammengebrochen, die Wirtschaft lag am Boden. Die neue ungarische Demokratie erbte etwa 21 Milliarden Dollar Schulden und dies bei einem äußerst bescheidenen Wehrungsvorrat von insgesammt 600 Millionen Dollar, sowie einer sich steigernden Inflation. Es gab einen Konsens darüber, dass Ungarn die auf Privateigentum basierende Marktwirtschaft benötigt. Die den Systemwechsel vollziehende Elite war sich darüber im Klaren, dass es eine Privatisierung jenes Ausmaßes, die eine ganze Nationalwirtschaft betrifft, noch nirgendwo gegeben hat. Trotzdem entschied sie sich dafür, mit einer der wichtigsten ungarischen nationalstrategischen Grundeinstellung, der Trägheit zu brechen, und unverzüglich mit der Umwandlung des Gemeinbesitzes in Privateigentum zu beginnen . Darüber aber, wer und auf welche Weise die neuen Eigentümer sein werden, gab es nicht nur keinen allgemeinen Konsens, sondern darüber wurde auch kaum gesprochen. Im Gegensatz zu den anderen ehemaligen sozialistischen Ländern erlaubte das ungarische Verfassungsgericht die Reprivatisierung nicht.  Es gab zwar Bestrebungen zur Entschädigung, man experimentierte auch mit verschiedenen spitzfindigen Ersatzlösungen herum, wie z. B. die Entschädigungskupons, Vorzugsaktien usw ., das Wesentliche war jedoch, dass jene, die einst ihres Eigentums beraubt worden waren, dieses Eigentum nicht zurückerhielten.  Bei der Transferierung des staatlichen Eigentums in Privatbesitz konnte man schließlich zwischen zwei Möglichkeiten wählen: werden die kapitalstarken ausländischen Investoren alles an sich bringen oder bleibt auch etwas für die in der Nähe des Fettnapfes sitzenden Mitglieder der Elite übrig. Aus Natur der Dinge folgte, dass die kommunistische Führungsschicht bei der Privatisierung, da dieser Prozess noch vor den ersten freien Wahlen , im Rahmen der sogenannten spontanen Privatisierung begonnen hatte, die besten Startpositionen besass. Genossen waren sie, zu Kapitalisten wurden sie.

Die neue ungarische Demokratie kam als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses zwischen Staatspartei und ihrer sich formierenden Opposition zustande, was wir als „Systemveränderung durch Verhandlung“ benannt haben. Die Bedingungen der auf Mehrparteiensystem basierenden demokratischen Marktwirtschaft wurden durch eine als provisorisch erdachte Verfassung und durch das Verfassungsgericht gesichert, welches sein Amt vor Gründung der ersten freien Regierung antrat. Dieses Verfassungsgericht verhinderte nicht nur Reprivatisierung, sondern auch die Möglichkeit zur Bestrafung all jener, die im kommunistischen System Kapitalverbrechen begangen haben. Als damaliger Präsident des Verfassungsgerichtes verhinderte László Sólyom, gegenwärtiger Staatspräsident Ungarns, bewusst die Durchsetzung von Gerechtigkeit, untergrub dadurch elementar den Sinn von Gerechtigkeit sowie die moralische Wertordnung der ungarischen Bürger. Sólyom brachte das neue System in eine moralisch unmögliche Lage. Das Leben ohne Gerechtigkeit und Wahrheit  ist nämlich kein Leben für den Menschen. Ohne Menschen gibt es keine Wahrheit, ohne Wahrheit gibt es keinen Menschen. Wie Ortega es schrieb: „Den Menschen kann man so bestimmen, dass es jenes Wesen ist, welches absolut die Wahrheit benötigt, wie auch umgekehrt: die Wahrheit ist das einzige, das der Mensch absolut benötigt.” Als Präsident des Verfassungsgerichtes stieß László Sólyom durch bewusste Aufhebung der Verbindung zwischen Recht und Gerechtigkeit die gerade entstehende Demokratie in eine moralische Krise.

Vergeblich stimmten Abgeordnete mehrfach für die moralische Wiedergumtachung Sólyom berief sich auf die „rechtsstaatliche Revolution” und betrachtete gegenüber der Durchsetzung des Naturrechts sowie der Wahrheit und Gerechtigkeit die den Ausbau der totalen kommunistischen Diktatur krönende 1949er Verfassung für wertvoller, welche in Wirklichkeit nur die Übersetzung der sowjetischen Verfassung war (1949: Ges. XX.). Er verteidigte die Kontinuität jener Verfassung, die zuerst im Jahre 1972, dann 1989 (Ges. XXXI.) modifiziert worden war, und deren bis auf den heutigen Tag gültiger Text (Ges. XL. 1990.) festschreibt, dass der Gesetzgeber diese Variante lediglich als provisorische Lösung vorgesehen hat. Die Präambel erklärt nämlich: „Zur Unterstützung des friedlichen politischen Übergangs zum Rechtsstaat, der ein Mehrparteiensystem, eine parlamentarische Demokratie und eine soziale Marktwirtschaft realisiert, legt das Parlament den Text der Verfassung Ungarns – bis zur Annahme der neuen Verfassung unseres Landes – wie folgt fest...”.

In Ungarn folgte also dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems kein Wechsel der Elite, und sowohl eine Reprivatisierung als auch moralische Wiedergutmachung blieben aus. Das öffentliche Leben wurde durch keinerlei Durchleuchtung gesäubert, die für innere Abwehr arbeitenden Agenten sind nicht enttarnt worden. Die Elite der Diktatur hat ihr Verbindungskapital als Profiteur der Privatisierung zu Geldkapital konvertiert. Und im Besitz ihrer wirtschaftlichen Macht hat sie auch ihre politische Macht restlos zurückerobert, auf die sie nur einige Jahre lang – zwischen 1990-1994 beziehungsweise 1998-2002 – verzichten musste. Infolgedessen ist die wirtschaftliche und politische Elite in Ungarn zum großen Teil identisch, und ihr Wirken in Netzwerken ist Brutstätte der Korruption. Heutzutage gibt sich die politische Elite bei öffentlichen Aufträgen nicht mehr mit einem Aufpreis von 10-20% zufrieden, sondern arbeitet mit mehreren hundert Prozent. . Auf Grund der Verflechtung von Privatinteressen (Wirtschaft) und der Staatsinteressen (Politik) wird das allgemeine Interesse immer stärker in den Hintergrund gedrängt. Nachdem diese Elite Wirtschaft und Politik durch an Mafiaverbindungen erinnernden Fäden miteinander verknüpft, ist das in den Staat, in die Rechtsprechung und in die politische Klasse gesetzte Vertrauen der Gesellschaft essentiell erschüttert. Dieses Defizit an Glaubwürdigkeit versucht die politische Elite mit unnachgiebiger und hemmungsloser Gewalt sowie mit Hilfe fortgesetzter Täuschung der Wähler, mit einer vor den Kulissen durchgeführten Zirkusshow auszugleichen. Die Meinung ist allgemein verbreitet, nach der die ungarische Elite unmoralisch sowie korrupt sei und noch dazu das Land nicht gut führe. Die Sorgen werden dadurch nur noch vergrößert, dass immer mehr Zeichen darauf hindeuten: auch die jungen Generationen der ungarischen politischen Elite haben sich dieses Muster angeeignet.

Keine Systemveränderung kann bedeuten, dass die Gesellschaft austauschbar oder umtauschbar sei. Die gesamte Elite wurde lediglich von der kommunistischen Diktatur nach 1945 entfernt, indem man sich auf das Prinzip der kollektiven Schuld stützte, und diktatorische Mittel angewandt wurden. Aber selbst im Falle einer friedlichen Systemveränderung wäre es nötig gewesen, die exponiertesten Vertreter der Elite der Diktatur durch das neue, demokratische Ungarn zur Verantwortung zu ziehen. Solche Personen, die das Leben unschuldiger Menschen ausgelöscht, an Folterungen und Erniedrigungen teilgenommen hatten, das heißt die solche Kapitalverbrechen begangen hatten, für die sie in der Zeit der Diktatur mit Privilegien belohnt worden waren. Man hätte demonstrieren können, dass die ungarische Gesellschaft es nicht zulässt, wenn die Machthaber das Leben ihrer politischen Gegner auslöschen. Hierzu konnte es aber nicht kommen. Es gelang nicht die Verbrechen der Vergangenheit aufzudecken. Die Benennung der Täter, die öffentliche Verurteilung ihrer Taten ist nicht geschehen. Die historische Rechtssprechung und die mit ihr Hand in Hand gehende Katharsis blieben aus, wofür jeder einzelne Bürger von Ungarn einen hohen Preis zahlt. Nachdem wir die Verbrecher des alten Systems nicht bestraft haben, ist es nicht eindeutig geworden, ob das Gute über das Schlechte gesiegt hat. All das hat vielen Millionen Menschen bewiesen: es lohnt sich einfach nicht anständig zu sein. Diejenigen, die der Diktatur keine Handlangerdienste geleistet hatten, haben nach der Systemveränderung keine Genugtuung erhalten, weshalb sie heute vielen als töricht und lebensfremd erscheinen. Die ausgebliebene moralische und materielle Wiedergutmachung demonstrierte, dass die Anständigen auch weiterhin Verlierer, echte „loser“ bleiben, während die Mörder und Verräter auch weiterhin auf der Sonnenseite einherstolzieren können. Sie mussten nicht einmal um Verzeihung bitten.

Die Entwertung der Moral hat bis zum heutigen Tag den Staat bis auf seinen Grundmauern zerfressen. Korruption, moralische Krise haben die öffentliche Verwaltung, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verantwortlichen Organe und die (Un)Rechtssprechung funktionsunfähig gemacht. Unlängst hat ein sozialistischer Parlamentsabgeordneter, der zugleich auch evangelischer Geistlicher ist, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen betont: „es sei an der Zeit, dass wir endlich zur Kenntnis nehmen, weder die Politik noch die Rechtsprechung hat etwas mit der Wahrheit zu tun“.  Tatsache ist, dass in Ungarn die Rechtssprechung einen beträchtlichen Teil der Straftäter nicht zur Verantwortung zieht und nicht bestraft, weshalb sich die Mehrheit nicht gezwungen fühlt, sich den Gesetzen zu beugen. Selbst in einfachsten Angelegenheiten dauert es 10 bis 12 Jahre, bis ein rechtskräftiges Urteil gefällt wird. Nichts unterstützt die Verbreitung des Zustandes von Gesetzlosigkeit stärker, als der Umstand, dass die zur überwiegenden Mehrheit der Elite nahe stehenden Schurken sich dem entziehen können, zur Verantwortung gezogen zu werden, und von ihrer Beute hervorragend lebend in das Gesicht der Öffentlichkeit grinsen. Das Fehlen gesetztreuen Verhaltens, die Devalvierung moralischer Werte, die Relativierung der individuellen Übernahme von Verantwortung untergraben das bürgerlich-demokratische Systems.

Darin, dass wir an diesen Punkt angelangt sind, tragen die meinungsbildenden Intellektuellen eine besonders große Verantwortung. Verständlicherweise waren jene, die sich unter der Diktatur kompromittiert hatten, nicht daran interessiert, dass die Systemveränderung zu einer echten Zäsur wird. Doch war es überraschend, dass die ungarischen Liberalen, auch einstige Oppositionelle, sich letztendlich neben denen aufreihten, die während der Zeit des Parteienstaates Kapitalverbrechen begangen hatten. Schlimmer noch, sie drohten jedem, der für die Notwendigkeit der moralischen und materiellen Wiedergutmachung argumentierte, ihn unmöglich zu machen. Wegen seines damaligen Verhaltens hat ein bedeutender Teil der ungarischen Intelligenz seine moralische Basis verloren, gegen die alles überwuchernde Korruption und den moralische Niedergang aufzutreten. In einem öffentlichen Leben nämlich, in dem die Kapitalverbrechen keine Folgen nach sich ziehen, in dem der Mörder nicht vom Opfer zu unterscheiden ist, in dem man ungestraft Landesverrat begehen kann, und ebenso ungestraft in Wort beziehungsweise Schrift zu Mord aufrufen kann, muss man sich in so einem öffentlichen Leben gerade an Diebstahl oder Lügen stoßen? Die Gewinner des Systemwechsels sind eindeutig die Profiteure des Parteienstaats geworden, die auch einst mit allem davongekommen sind, warum sollte es denn heute anders sein?

Im Jahre 2009 scheinen die Ungarn ohne Hoffnung und enttäuscht zu sein.  Die moralische Krise gefährdet die Legitimität des Systems. Innerhalb der Gesellschaft haben Respekt und Achtung aufgehört zu existieren. Gegenüber denen, die ein öffentliches Amt bekleiden, den Politikern, den Personen des öffentlichen Lebens verspüren die Bürger keinerlei Vertrauen.  Alte Reflexe aus der Zeit des Parteienstaates kehren wieder zurück, nach denen die Politik uncool und gefährlich ist, und es besser sei, wenn wir uns gar nicht mit ihr beschäftigen, da wir sie sowieso nicht beeinflussen können. Der Geist des Kádár-Regimes durchdringt das gesamte öffentliche Leben. Wir sind nicht nur gegenüber der Elite argwöhnisch, sondern auch einander gegenüber. Wir helfen anderen nicht gern, kommen auch mit unseren Nachbarn kaum mehr zusammen, lieber ziehen wir uns zurück und sehen fern. Wir halten uns von den politischen, aber auch von den zivilen Organisationen fern. Der Verlust des ineinander gesetzten Vertrauens ist eines der schwersten Vermächtnisse des Sozialismus. Die ständige Anwesenheit der Spitzel, der Agenten, die Durchpolitisierung des Privatlebens hat den ungarischen Menschen solch bleibende Traumata verursacht, dass zu deren Überwindung mehrere Generationen aufwachsen müssen.

Auch die politische Elite greift auf das Kádársche Modell zurück, wenn sie die Gesellschaft bewusst entpolitisiert und die Menschen wieder glauben macht, es sei die Aufgabe des Staates, für sie zu sorgen, sie müssten keinerlei Anstrengungen unternehmen, sie müssten für nichts Verantwortung übernehmen. Die Menschen denken also entsprechend den sozialistischen Reflexen überwiegend in Strategien, die jedwede Risiken vermeiden, und bevorzugen Lösungen, die der Staat garantiert: sie erwarten vom Staat, dass dieser für sie sorgen soll. Und die politische Elite hält im Interesse der Bewahrung ihres politischen Einflusses die Steuern und die Abgaben auf einem hohen Niveau, um auch über die Neuverteilung die Prozesse in der Hand halten zu können. Die Vorsorge für sich selbst, die Arbeit, die Leistung scheint wieder in den Hintergrund gedrängt zu werden, ebenso wie einst in der „lustigsten Baracke“. Es ist nur zwanzig Jahre her, als man im Gegenzug dafür, die Diktatur über sich ergehen zu lassen, eine Wohnung im Plattenbau, ein Trabant, ein Wochenendhaus, ja alle drei Jahre auch eine Reise in den Westen in Aussicht gestellt bekam. Nichts beweist die Passivität, die Insel-Mentalität der ungarischen Bürger besser als der Umstand, dass drei Viertel der Bevölkerung keine einzige Fremdsprache beherrscht und auch gar nicht erlernen will. Die Menschen in Ungarn sind auch davon überzeugt, dass das persönliche Vorankommen eines jeden davon abhängt, wer in welche Familie hineingeboren worden ist, während sie die Rolle der Qualifikation und der Leistung nicht für entscheidend halten. 

Die im Jahre 2004 an die Macht gekommene sozialistisch-liberale Koalition unter der Führung von Ferenc Gyurcsány  hielt auch die Anwendung der Waffe des Wohlstandschauvinismus’ bei der am 5. Dezember 2004 abgehaltenen Volksabstimmung über die doppelte Staatsbürgerschaft für gerechtfertigt. Die Wähler entschieden über die Möglichkeit der Gewährung der Staatsbürgerschaft für ihre Brüder und Schwestern, die in den durch den Friedensvertrag von Trianon abgetrennten Teilen der Nation leben. Die sozialistisch-liberalen Regierungsparteien stachelten mit einer bewussten Lügenkampagne die Ungarn gegeneinander auf. Sie drohten den Bürgern in Ungarn, diese würden im Falle eines bejahenden Wahlausgangs ihre Pensionsansprüche, ihre Arbeitsplätze verlieren, ihr Lebensunterhalt würde gefährdet sein.  Damit haben sie die Solidarität mit unseren außerhalb der Landesgrenzen lebenden Brüdern und Schwestern aufgekündigt und dem Herzen unserer Nation eine schwere Wunde zugefügt. Zwar haben schließlich die bejahenden Stimmen überwogen, doch hat die Kampagne das öffentliche Leben vollends vergiftet und den Diskurs zwischen den einander gegenüber stehenden politischen Lagern unmöglich gemacht. Der moralische Niedergang, der Glaubwürdigkeitsverlust der sozialistischen Partei (MSZP) und der der liberalen, freien Demokraten (SZDSZ) datiert sich von diesem Zeitpunkt.
 
Die politische Elite versucht ihr eigenes Vertrauensdefizit dadurch auszugleichen, indem sie gegen verschiedene Zielgruppen Neid schürt, denn in Ungarn – auch dies ist eine postkommunistische Eigenheit – vertragen die Menschen Ungleichheiten nur schwer und nehmen viel größere Unterschiede an, als jene, die tatsächlich bestehen. Nach dem Zusammenbruch des die Gleichheit verkündenden kommunistischen Systems sind nämlich die vielen „Gleicheren“ scheinbar mit den gleichen Chancen im Kapitalismus gestartet. Sehr schnell hat sich aber herausgestellt, dass nur wenige ihr Glück machen konnten, und die Zahl derer, die die sich bietenden Möglichkeiten nicht nutzen konnten, viel höher war. Vielen bot sich auch keinerlei Möglichkeit. Für die Erfolglosen bedeutet es eine kaum zu ertragende Last, dass jene, mit denen sie gleichzeitig losgegangen sind, sowohl finanziell als auch hinsichtlich des damit einhergehenden Prestiges uneinholbar vorangekommen sind. Wo überwiegend die ererbten Unterschiede tradiert werden, ist es viel leichter sich damit abzufinden, dass die, die mit größeren Chancen gestartet sind, erfolgreicher sind, als zu akzeptieren, dass von zwei ehemaligen Habenichtsen der eine auch ein solcher geblieben ist.

Der Herbst des Jahres 2006 wurde zum krisenhaftesten Zeitraum der bisherigen Geschichte der ungarischen Demokratie. Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, der im Mai 2006 mit einer überzeugenden Mehrheit die Wahlen gewinnen konnte, schockierte weinig später seine Parteigenossen und damit die sozialistischen Partei auf einer geschlossenen Fraktionssitzung mit einem Geständnis. In dieser berüchtigten Rede gestand er „anderthalb Jahre gelogen und nicht regiert zu haben… er habe jedoch die notwendigen Maßnahmen bewusst nicht ergriffen, habe mit hunderten von Tricks die Wirtschaftsdaten im Interesse des Wahlsiegs verfälscht.“ Die Tonaufnahme der Rede, die wahrscheinlich von dem von seiner rednerischen Leistung berauschten Ministerpräsidenten selbst an die Öffentlichkeit lanciert worden war, schockierte die Bürger Ungarns am 17. September. Sie fühlten sich durch Ferenc Gyurcsány in ihrer Würde verletzt, da er bewusst die öffentliche Meinung des Landes getäuscht hatte. Es kam zu spontanen Demonstrationen, die die Polizei, unter Anwendung gesetzeswidriger Mittel, brutal niederschlug. Die Erstürmung des Gebäudes des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, den das ganze Land auf den Fernsehbildschirmen verfolgen konnte, werteten viele als Provokation des Geheimdienstes. Am 23. Oktober 2006, am fünfzigsten Jahrestag der Revolution von 1956, griff die Polizei die von der festlichen Veranstaltung des oppositionellen FIDESZ (Ungarischer Bürgerbund) nach Hause ziehenden Gruppen friedlichen Bürger an und zerschlug sie auf brutale Weise. Von diesem Moment an waren der Ministerpräsident, seine Regierung und die regierenden Parteien moralisch unmöglich geworden. Sie sind allesamt zur Persona non grata geworden. Sie wandten jedoch ihr übliches Rezept an, diesmal wollten sie die im Lande Lebenden aufeinander losgehen lassen. Sie hetzten die Zigeuner und die Ungarn gegeneinander auf. Ihre spaltende Politik vertiefte die moralische Krise des Landes weiter, was auch sie immer stärker aufrieb. Im Laufe von zwei Jahren sind sie an den Rand der totalen Auflösung angekommen. Der liberale SZDSZ (Bund Freier Demokraten) hat sich praktisch aufgelöst, und die MSZP (Ungarische Sozialistische Partei) erlebt die krisenhaftesten Stunden ihres Bestehens. Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass sie das Schicksal ihrer polnischen Genossen teilen wird.

Zwanzig Jahre nach dem Fall des Kommunismus befinden sich die Ungarn in einem Zustand des fehlenden Selbstvertrauens. Die Systemveränderung selbst beurteilen sie als Debakel. Viele, immer mehr Leute behaupten, vor allem auf der ungarischen „rechten Seite”, dass es gar keine Systemveränderung gegeben hat. Die Liberalen sprechen von einer Demokratie ohne Demokraten, und bestimmen sich selbst auch weiterhin als Zivilisatoren der ungehobelten und ungebildeten Ungarn. All diese Meinungen widerspiegeln das Weiterleben des für das zwanzigste Jahrhundert so typischen linken Gedankenguts, das seinen in die Verwirklichung der vollkommenen Gesellschaft gesetzten Glauben sowie seine krankhafte Intoleranz bis auf den heutigen Tag nicht aufgegeben hat. Dabei kann die ungarische Systemveränderung nicht als Fiasko betrachtet werden. Die politischen Institutionen der Demokratie sind ausgebaut worden. Das Staatseigentum ist vom privaten Eigentum abgelöst worden.  Trotz der schwachen Leistung der Elite hat das Land an Wohlstand dazu gewonnen. Die Städte sind schöner geworden, Autobahnen wurden erbaut. Von Budapest kann man in Rekordzeit an die kroatische Meeresküste gelangen, wo mehr Ungarn ihren Sommerurlaub verbringen als am heimischen Plattensee. Mehr als eine Million Handys benutzten Alt und Jung, um miteinander zu sprechen. Unsere Kinder können sich gar nicht mehr vorstellen, was alles ihre Großeltern getan hatten, damit sie damals einen Telefonanschluss und ein Auto erhalten konnten. Die Besten unserer Jugend studieren an ausländischen Universitäten, machen Erfahrungen - in fernen Ländern.

Nach dem Sturz des Kommunismus’ geriet Ungarn auch hinsichtlich seiner geopolitischen Lage in eine bessere Situation als es bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen war. Infolge des Zerfalls der Tschechoslowakei, Jugoslawiens und der Sowjetunion ist es von mehreren selbständigen und unabhängigen Staaten umgeben, die hinsichtlich ihrer Ausmaße hinter Ungarn zurückbleiben. Die unabhängige Ukraine erleichtert unsere Ängste vor Russland. Wir sind Mitglieder sowohl der NATO als auch der Europäischen Union. Selbstverständlich hat keine der beiden Organisationen unsere in sie gesetzten Hoffnungen erfüllt, aber auch das beweist nur, dass unsere Erwartungen übertrieben waren. In den vergangenen beiden Jahrzehnten, ganz bis zum September dieses Jahres, gehörte unsere Region zur Interessensphäre der USA.  Indem Präsident Obama ohne Abstimmung mit den betroffenen Ländern die in Tschechien und Polen geplante Stationierung der Komponenten des angekündigten Raketenabwehrschildes stoppte, hat er unsere Region in die deutsche und russische Interessensphäre zurückbefohlen. Dorthin, wohin wir zwischen 1938 und 1990 gehörten. Über die deutsch-russische Zusammenarbeit besitzt unsere Region schon Erfahrungen. Niemand kann außer Acht lassen, dass der deutsche sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder nach dem Ende seiner Dienstzeit eine Stelle bei Gasprom beziehungsweise anderen russischen Firmen in Europa annahm. Wir haben auch die Erfahrung machen können, wie in der Zeit des russisch-ukrainischen Gaskonflikts (2008), als die Gasversorgung Mitteleuropas in den kritischen Wintermonaten ausgesetzt worden war, weder die Europäische Union noch Deutschland im Interesse der Länder der Region auftreten wollte oder konnte (was letztlich auch einerlei ist). All das muss die Augen der Länder der Region öffnen. Eine abgestimmte Politik, eine gemeinsame Durchsetzung der Interessen ist notwendig. Mittelosteuropa und darin Ungarn muss erkennen, dass es nur auf sich selbst zählen kann. Nur gemeinsam kann es gelingen, die Ergebnisse von 1989 zu bewahren.

Die hier lebenden Völker, so auch die Ungarn, vereinigen die besten Eigenschaften von Ost und West. Stellen wir fest: so viel Probleme wir auch haben, wir stehen nicht schlechter da als die als entwickelt genannten westeuropäischen Länder. Wo die Freizeit höher eingeschätzt wird als die Arbeit (zum Beispiel: in den Niederlanden, im Vereinigten Königreich, in Schweden, in Irland und in Finnland. Interessanterweise – von den Iren abgesehen – eher in den einst durch ihren Fleiß berühmt gewordenen protestantischen Ländern.) , in denen die nationale Identität zu einem guten Teil gegen eine Wohlstandsidentität ausgetauscht worden ist. Dort, wo das Unterrichtswesen in Trümmern liegt, das Familienleben ausgehöhlt zu werden scheint, die Bereitschaft zum Kinderkriegen passé ist, für die Jugendlichen die Aussicht auf eine gute Stelle gering sind und im Mittelpunkt ihrer Lebensstrategie der Wunsch steht, nicht mehr altern zu wollen. Weil in es in der westlichen Hälfte von Europa, wie auch in den USA, peinlich und uncool ist, alt zu sein, obwohl beide Gesellschaften immer stärker überaltern. Es gibt keine kosmetisch-chirurgischen Eingriffe, die nicht gegen das Vergehen der Zeit eingesetzt werden würden.

2009 erschrak auch die ungarische Gesellschaft vor der Krise. Nicht wenige der schon immer alles besser Wissenden visionierten über das „Ende des Kapitalismus“. Es ist noch kein Jahr vergangen, dass das Zerplatzen der amerikanischen Immobilienblase das stehende Gewässer der Weltwirtschaft aufwirbelte. Und obwohl wir uns daran gewöhnt haben, dass Experten der Volkswirtschaft auf Grund ihrer sicheren Prognosen uns auf oberkluge Weise belehren, so konnte doch diese Krise einen jeden davon überzeugen, dass ihre Kenntnisse, ihr „Fachwissen“ auf Grundlagen basieren, die um kein bisschen sicherer sind als die jeglicher Gesellschaftswissenschaften. Das genaue Datum der Entstehung und des Endes des Kapitalismus hat bisher nur das „Kommunistische Manifest“ genau angeben können, mit der bekannten Treffgenauigkeit. Begnügen wir uns damit, dass das zwanzigste Jahrhundert zu Ende zu gehen scheint. Die Welt bereitet sich auf das neue Jahrhundert mit neuen geopolitischen Konstellationen, mit der Umstrukturierung der Kräfteverhältnisse vor. Und die Wirtschaft muss sich an die veränderten Bedingungen anpassen.

So wie auch wir es tun müssen. Man müsste endlich damit aufhören, sich in der Rolle des Opfers zu gefallen. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass auch das 21.Jahrhundert kein größeres Interesse für die Leiden der Ungarn zeigen wird als es das zwanzigste getan hat. Auch die Kultur der Klage und des Jammerns müsste man endlich aufgeben. Arbeit, Lernen, Verantwortung, Flexibilität, Begabung und Kreativität. Diese Tugenden brauchen wir, und wir müssen auch endlich davon Abstand nehmen, dass unser Politisieren von Emotionen gesteuert wird. Wir benötigen Realpolitik und zähe Interessendurchsetzung. Alle Möglichkeiten dafür sind uns gegeben. Im Jahre 1989, vor zwanzig Jahren sind wir frei und unabhängig geworden. Wir müssen in der Lage sein, die damals erschaffenen Rahmen langsam und überlegt mit unseren traditionellen Werten und Tugenden zu füllen. Ungarns politische Elite und seine Parteien sind in der Krise. Doch nicht sie sind die Nation.