Schmidt Mária

Maria Schmidt: 1953. 17. Juni – Revolution in Berlin

Es ist eine Schande, daß in der Mitte des 20. Jahrhunderts und inmitten Europas diese Trennung eines Volkes weiter fort-bestehen soll, daß uns verwehrt wird, was in der ganzen Welt heiliges Prinzip geworden ist.
Ludwig Erhard, 1953

Die Matrosen von Kronstadt waren die ersten im Jahre 1921. Ihnen folgten die Deutschen, am 17. Juni 1953, dann die Polen und die Ungarn im Oktober des Jahres 1956, hiernach die Tschechen 1968, danach erneut die Polen, bis schließlich 1989 die Nationen Mitteleuropas die sowjetische Besatzung und den Kommunismus endgültig von sich abschüttelten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Mit dem nahenden Ende des Zweiten Weltkrieges wurde es immer eindeutiger, dass sich die beiden Supermächte über das Schicksal Deutschlands nicht wer-den einigen können. Roosevelt war trotz des kontinuierlichen Drängens von der Seite Stalins nicht dazu bereit, vor der Beendigung der Kämpfe mit seinen Vorstellungen über die Neuordnung nach dem Krieg herauszurücken. Nachdem weder die 1949-er Berlinkrise mit der Berlin-Blockade noch der Stalinsche Lö-sungsvorschlag von 1952 die Pattsituation auflösten blieb die deutsche Frage also ganz bis ins Jahr 1991 offen. Diese Tatsache lastete bleischwer auf beiden Seiten.

Am 5. März 1953 starb Stalin. Mit seinem Tod geriet die Sowjetunion in eine zweifache Vakuumsituation. Sie musste die Frage der Nachfolge lösen, und sie musste Antworten auf die die bipolare Welt dringend beschäftigenden aktuel-len Fragen finden. Deswegen begannen beide Seiten mit der Stabilisierung ihrer eigenen Einflusssphäre in Deutschland. Im Frühling des Jahres 1953 trat West-deutschland der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft5 / European Defence Community (EVG/EDC) bei1 , welchen Umstand das wegen des sprunghaften Anstiegs der Flüchtlinge sowieso schon unter großem Druck stehende Ost-deutschland nicht außer Acht lassen konnte. Während nämlich im Jahre 1951 noch 166 Tausend Menschen die DDR verlassen hatten, waren es 1952 bereits 182 Tausend, und ihre Zahl stieg schon in den ersten vier Monaten des Jahres 1953 auf 122 Tausend an. Ihre Zahl stieg insgesamt auf 225 tausend in der ers-ten Hälfte des Jahres2.  Es stand zu befürchten, dass die mit den Füßen abstim-menden deutschen Bürger auf diese Weise die DDR liquidieren würden. Dass diese Befürchtung nicht unbegründet war, ist heute bereits eindeutig. Von 1961 bis 1989 wurde Berlin durch die Mauer zweigeteilt, während auch die Westgrenze der DDR hermetisch abgeschlossen wurde. Als die Ungarn den Ei-sernen Vorhang öffneten und die sich nach Freiheit sehnenden Ostdeutschen durch ihn hindurch ließen, begann der Countdown für das Fortbestehen der DDR. Als die antikommunistische Revolution von ’89 die Berliner Mauer zu Fall brachte, hörte die DDR auf zu existieren, konnte sich Deutschland und so Euro-pa vereinigen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ab der Mitte des Jahres 1952 waren Walter Ulbricht sowie die an der Spitze der SED stehenden Genossen gezwungen, an der deutsch-deutschen Grenze Ver-schärfungen einzuführen3,  und gleichzeitig hierzu die Einführung des Sozialis-mus zu beschleunigen4.  Es begann die Zwangskollektivierung der Landwirt-schaft,  die Übernahme von Fabriken, Betrieben und kleinen Firmen in den staatlichen Besitz6.  Wenig später begann der Aufbau einer geheimen DDR-Armee. Die SED löste die ostdeutschen Länder und Provinzen auf und verwan-delte die DDR in einen zentralistischen Einheitsstaat. Den Widerstand der deut-schen Bürger brachen sie auf brutale Weise nieder. Doch hatten sie außer Acht gelassen, dass bis zu diesem Zeitpunkt innerhalb des sozialistischen Lagers die Situation auch andernorts bis zum Äußersten gespannt war. Am 3. Mai traten die Arbeiter von Plowdiw und Kaschkowo in den Streik, und am 1. Juni ström-ten gegen das kommunistische System demonstrierende Menschen in Pilsen auf die Straßen. „Es lebe das freie Europa! Es lebe Eisenhower! Tod den Kom-munisten!“ – skandierten sie. Über zwei Tage gehörte ihnen die Stadt, die erst die den Ausnahmezustand und das Notstandsrecht einführende Armee wie-dererobern konnte7.  Auch in der DDR schlug die neue sowjetische Führung eine Drosselung des Tempos vor. Die Führer der ungarischen Partei waren am 13. Juni nach Moskau beordert worden, wo man sich jetzt nicht nur um die Kor-rektur der „Fehler” kümmerte, sondern auch über die Entlassung von Rákosi und die Ernennung von Imre Nagy zum Ministerpräsidenten entschied. Im Lau-fe der Verhandlungen betonte Molotow nachdrücklich, dass die von ihnen ver-tretene „neue Richtung” für alle verbindlich sei, weil die aufgetretenen Proble-me in allen Volksdemokratien identisch wären8.   Ulbricht und Grotewohl waren aber unbelehrbar. Die SED erklärte, dass die Errichtung des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe in der DDR geworden sei, und betonte, dass dabei »die Verschärfung des Klassenkampfes unvermeidlich ist und die Werktätigen den Widerstand der feindlichen Kräfte brechen müssen«. Obwohl Malenkow Rákosi wegen übertriebener militärischer Ausgaben und auch wegen der Aufrechter-haltung einer überdimensionierten Armee gerügt hatte, hatten Ulbricht und seine Leute beschlossen, um die Kosten für die Aufrüstung und den Ausbau der Schwerindustrie aufbringen zu können, die Arbeitsnormen anzuheben. Einige Hundert Bauarbeiter zogen deshalb am 16. Juni von der Ost-Berliner Stalinallee zum Haus der Ministerien, um eine Rücknahme der Normenerhöhung zu for-dern – und lösten damit einen unerwarteten Flächenbrand aus. Tausende Ber-liner schlossen sich ihnen an und verlangten den Rücktritt der Regierung. Sie forderten ein einheitliches Berlin und freie Wahlen. Sowjetische Fahnen wur-den angezündet. In der Folge kam es in über 650 Orten zu spontanen Protes-ten. 600 Betriebe wurden bestreikt, 140 Partei- oder Verwaltungsgebäude ge-stürmt, knapp 1400 Häftlinge aus Gefängnissen befreit. Das Regime schien am Ende zu sein, das Politbüro flüchtete sich ins sowjetische Hauptquartier. Doch die Besatzer verhängten den Ausnahmezustand, ließen Panzer der Roten Ar-mee auffahren und schlugen den Volksaufstand nieder. Über fünfzig Menschen wurden getötet, etwa 13.000 inhaftiert und mindestens 1.600 abgeurteilt. Der 17. Juni, an dem der SED die Macht beinahe entglitten wäre, wurde zum Trau-ma der Funktionäre – und zu einer bitteren Lehre für das Volk.
Selbstverständlich sprach auch in diesem Fall, so wie drei Jahre später ebenfalls, im Falle von 1956, die kommunistische Propaganda von einer „faschistischen Provokation”, die durch die „Agenten des Imperialismus” vom Zaune gebro-chen worden sei.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Berliner Revolution war für beide Supermächte ein peinliches Fiasko. Für die Sowjetunion aus dem Grund, weil sie die als Besatzungsmacht im Land ste-hende Rote Armee gegen die deutschen Arbeiter im Interesse der Bewahrung des sozialistischen Systems und der Herrschaft der Sowjetunion einsetzen musste. All dies ließ auf einen Schlag die Verletzbarkeit und die Labilität der mit den Problemen der Nachfolge Stalins ringenden Sowjets offenbar werden, und brachte auch den Sturz des in der Sache der Ordnung der deutschen Frage am stärksten engagierten und des sich als erster gegen das stalinsche Erbe wen-denden Berija mit sich. Die USA waren während des Konflikts nicht einmal in der Lage, zu reagieren – einerseits weil bis der Bericht der Berliner Zentrale des CIA auf dem Tisch der Washingtoner Entscheidungsträger gelandet war, dieser bereits überholt war9,  und andererseits hatten sie auch kaum etwas zu sagen. Die öffentliche Meinung des Westens reagierte beinahe überhaupt nicht. Zum Teil aus dem Grunde, weil die Erlebnisse des Krieges noch immer kaum der Ver-gangenheit angehörten, und sie im Westen selber nicht wussten, wie sie sich zum Wunsch der Deutschen nach Freiheit und nach nationaler Einheit stellen sollten. Sie waren sich nicht sicher darüber, ob ihre eigene, die Demokratie und Selbstbestimmung verkündende, die Freiheit als einen über allen anderen Din-gen stehenden Wert angebende Ideologie sich auch auf die besiegten Deut-schen bezieht. Anstelle der Auflösung des schweren und peinlichen Dilemmas übergab sich die westliche öffentliche Meinung der Empörung über die Hinrich-tung des Rosenberg Ehepaares am 19. Juni 1953, eine Angelegenheit, die die sowjetische Propaganda bereits seit Jahren zum Vorreiterprozess des amerika-nischen „Faschismus” hochstilisiert, und unter dessen Vorwand sie, Länder-grenzen überschreitend, antiamerikanische Massenbewegungen organisiert hatte.

Die Tatsache, dass in den vollkommen gleichgeschalteten und unter totaler Kontrolle stehenden Massenmedien jenseits des Eisernen Vorhangs über den Berliner antikommunistischen Aufstand vom 17. Juni 1953 geschwiegen und über Jahrzehnte hinweg seine Bedeutung geleugnet wurde, war selbstver-ständlich. In der kommunistischen Diktatur hat die Macht das Volk nicht mit „unwesentlichen“ Informationen belastet, auch im Zusammenhang mit den an-deren Bruderländern tröpfelte man nur gründlich gesiebte Informationen – am häufigsten gelangten nur die vollkommen uninteressanten offiziellen Propa-gandalosungen gegenseitig in die Medien der Bruderländer. Für die westliche Linke erwies es sich nach 1956 als ausreichende Aufgabe, für die Schadensbe-grenzung nach dem ungarischen Freiheitskrieg und der Revolution zu sorgen. Und im Jahrzehnt der siebziger Jahre fielen die Berliner Ereignisse von 1953 der Ostpolitik zum Opfer. Für den Westen und besonders für die die Bundesrepub-lik leitenden sozialdemokratischen Politiker war es wichtiger als alles andere, den ostdeutschen Genossen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ab den achtziger Jahren, als die das Geld in das Zentrum der Anschauungen stellende Sichtweise die westliche Welt zu beherrschen begann, und parallel hierzu sich der Akzent von der Politik auf die wirtschaftlichen Ursachen verlagerte, ver-suchte man auch den 17. Juni 1953 zu einem Protest zu degradieren, bei dem es sich lediglich um einen Gegensatz in der Lohnfrage gehandelt habe. Die Linke ist, in Deutschland und auch anderswo, bis auf den heutigen Tag nicht in der Lage, sich von dem Marxismus loszusagen, laut dem gegenüber dem Staat des Volkes, der sozialistischen Revolution, beziehungsweise der Diktatur des Prole-tariats keine Revolution ausbrechen könne, höchstens eine durch die Imperia-listen angestachelte Konterrevolution – deshalb können sie und wollen sie auch gar nichts mit der am 17. Juni 1953 ausgebrochenen antikommunistischen, die deutsche Einheit fordernden Revolution anfangen. Deshalb hatten sie sie über einen so langen Zeitraum hinweg dazu verurteilt, verschwiegen zu werden, deshalb bagatellisieren sie sie auch heute noch. Dabei müssten sie stolz auf sie sein. So wie auch wir stolz auf sie sind, so wie auf 1956, auf 1968, und auf die Solidarität / Solidarność. Und natürlich auf 1989, „das Jahr der Wunder”, als dessen Ergebnis wir unsere Unabhängigkeit und Freiheit wieder gewonnen ha-ben.

 

1  Am 19. März 1953.
2  Uprising in East Germany, 1953. The Cold War, The German Question, and The Firts Major Upheaval Behind The Iron Curtain, Compiled, edited and intruduced by Christian F. Osterman, CEU Press, Budapest, 2001. 3 S.
3  Im Mai 1952 riegelte die SED deshalb die innerdeutsche Grenze ab und ließ in der sogenannten Aktion »Unge-ziefer« mehr als 8000 als unzuverlässig eingeschätzte Personen aus dem Grenzgebiet deportieren.
4  Die SED verkündete den »Aufbau des Sozialismus« auf ihrer II. Parteikonferenz im Juli 1952.
5  Zwischen August 1952 und Januar 1953 fanden über 1.200 Verfahren gegen widerspenstige Bauern statt, die sich weigerten, freiwillig in die LPG-s einzutreten, und die auch ihr gesamtes Vermögen verloren.
6  Im Februar und März 1953 wurden im Rahmen der Aktion »Rose« an der Ostsee 447 Menschen festgenom-men und 621 Häuser und Grundstücke verstaatlicht.
7  Uprising in East Germany, ibid. 16 o.
8  Ungarisches Staatsarchiv (Magyar Országos Levéltár). 276. f. 102/65.ö. e. in: Múltunk, 1992. 2-3. S. 241. Mitge-teilt durch György T. Varga.
9  William F. Buckley jr.: The Fall of the Berlin Wall. John Willey 2004. S. 16.