Über die Natur der Diktaturen
Eine Zivilisation, die ihre Werte nicht deutlich erklärt oder ihre erklärten Werte im Stich lässt, geht den Weg des Verfalls, der Altersschwäche.
Imre Kertész
Während der Vorbereitungsarbeiten zur Ausstellung des Hauses der Schicksale (ung. Sorsok Háza) nehme ich, der Natur der Diktaturen nachsinnend, zwei Bände von Imre Kertész immer wieder in die Hand. Der Band Das belastende Erbe Europas (ung. Európa nyomasztó öröksége)1 erschien 2008 zum ersten Mal und der Band Speichern als. Aufzeichnungen aus 2001-20032 (ung. Mentés másként, feljegyzések 2001-2003-ból) im Jahre 2011, beide bei dem Budapester Verlag Magvető. In diesen Schriften von Kertész erscheint die gemeinsame Erfahrung der totalitären Nazi- und der kommunistischen Diktatur in konzentrierter Form, all das, was durchlebt und daraus die Lehren gezogen, uns alle erfahrener und sensibler machen kann. Sonderbar und schwer zu erklären ist es allerdings, dass die Gedanken unseres einzigen Schriftstellers, der mit dem Nobelpreis geehrt wurde, über unsere jüngste Vergangenheit, seine punktgenau formulierten Analysen und seine daraus gezogenen Folgerungen den öffentlichen Diskurs, die öffentlich geführten Debatten kaum erreichen. Vielleicht deswegen, weil für diejenigen, die Kertész lesen und verstehen, seine Argumente und Erklärungen die gemeinsame historische Erfahrung, die wir alle zusammen erlitten haben, mit so einer überzeugenden Kraft deuten, dass sie es für unnötig halten, sich in die, lediglich an der Oberfläche kratzenden öffentlichen Diskurse einzuschalten, und diejenigen, die dies doch tun, die lesen Kertész nicht, kennen seine Argumente nicht, haben gar nicht die Zeit dazu, um mit ihm zusammen, ihn rezipierend nachzudenken.
Den als nur Manuskript erhalten gebliebenen autobiographischen Roman des 1960 bei einem Autounfall gestorbenen Albert Camus, der der Lieblingsautor und das Vorbild von Kertész ist, Der erste Mensch, wurde erst vierunddreißig Jahre später, im Jahre 1994 mit der Begründung herausgegeben, dass das unvollendet gebliebene Werk von seinen Feinden als weitere Angriffsfläche hätte genutzt werden können. Denn Camus lebte in seiner Heimat schon seit einiger Zeit vor seinem Tod in beinahe völliger Isolation, weil er sich gegen jene französischen Linken positioniert hatte, die chronisch an den Sozialismus glaubten und den Kommunismus unterstützten. Der Nobelpreis, den er drei Jahre vor seinem Tod bekam, milderte diese selbst auferlegte, aber deswegen nicht weniger bittere Ausgestoßenheit nicht nur in keiner Weise, sondern er verschlimmerte sie eher nur noch weiter. Der Preis vervielfachte die Reihen seiner Feinde und Angreifer nun auch noch um die seiner Neider. Es galt nicht als entschuldbar, dass Camus die wahre Natur der kommunistischen Diktatur deutlich erkannt und enthüllt hatte. Wie auch der Umstand nicht, dass er sich 1956 für den ungarischen Freiheitskampf einsetzte. Die schriftstellerische Verwandtschaft und jene zwischen den gleich Denkenden, die Kertész mit Camus verbindet, sind also kein Zufall. Kertész erhielt 2002 den Nobelpreis, der auch die Reihen seiner Neider vervielfachte: „Noch nie habe ich in meinem Leben soviel Niedertracht erfahren, wie seit der Verkündung meines Nobelpreises” – schrieb er3. Zugleich hatte er wegen seiner Ansichten über die zwei Diktaturen nicht einmal die Chance, in den von den Linksliberalen dominierten Kanon, in den Kreis der angepriesenen Schriftsteller und Intellektuellen aufgenommen zu werden. „Die ungarischen Nazis – unter denen sich viele Juden finden – schmähen mich. Zwei in der Öffentlichkeit bekannte Juden, ein [Reich-Ranicki genannter] deutsch-polnischer und der in Österreich lebende ehemalige Stalinist Pál Lendvai, ließen verlauten, ich hätte den Nobelpreis nicht bekommen sollen.”4 Kertész blieb während der kommunistischen Diktatur stets ein Außenseiter, und so betrachtete er das politische System von unten und von außen her, genauso wie er von unten und von außen her als Verfolgter die Nazi-Diktatur erlebt hatte, welche ihn mit dem gelben Stern markiert, ihn ausgestoßen, nach Auschwitz und dann nach Buchenwald deportiert hatte. Er widmete sein schriftstellerisches Schaffen dem Verstehen und dem Verständlichmachen jener Lehren, die aus den Erfahrungen mit den zwei menschenverachtenden Diktaturen gezogen werden können. Dies stand im Widerspruch zu dem von den „politisch Korrekten“ verhängten Verbot der Vergleichbarkeit von Diktaturen, und ist jenen Neophyten ziemlich unangenehm geworden, die nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus ihre tiefe Verbundenheit zu der Demokratie in sich entdeckt haben. Auch jener Umstand ließ Kertész gegen die oben erwähnten, sich als maßgebend erachtenden Intellektuellen-Kreise stellen, dass er ihre herausragende Rolle bei der Aufrechterhaltung, Rechtfertigung und Betätigung der Diktatur deutlich wahrgenommen hatte, und er nicht bereit war, ohne irgendeine Bemerkung darüber hinwegzusehen. Von ihm konnten die „theoretischen Intellektuellen“, die die Diktaturen bedient hatten, die gegenüber der Realität bzw. der Erfahrung blind geblieben waren, weil sie in der Welt der Ideologien gefangen geblieben waren, keine Absolution erhalten. Kertész sieht es richtig, dass diese Intellektuellen sich ausschließlich in geschlossenen, von Ideologien geleiteten Gesellschaften wohl fühlten, in denen sie sich ihr Vorankommen, ihre Privilegien durch Übereinkünfte und Kompromisse sichern konnten. Kertész schloss sich also nicht dem Chor jener an, die die Diktaturen Bedienten und Rechtfertigten, ähnlich wie Camus wählte auch er das freiwillige, ihm schweren Kummer bereitende geistige Exil, in dessen Folge er einen großen Teil seines Lebens abgeschottet führte. Dies empfand er nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als besonders schmerzhaft, denn der öffentliche Diskurs wurde nach wie vor von den Intellektuellen beherrscht, die im Gegensatz zu ihm das Ende der geschlossenen Welt der Diktatur als Zusammenbruch erlebt hatten, während er es aber als richtige Befreiung. Ihr Wissen, mit dem sie in der geschlossenen Gesellschaft zurechtgekommen waren, überlebt und Karriere gemacht hatten, war nun in der freien Welt wertlos geworden. Sie waren überflüssig und wurden deshalb unsicher und aggressiv. Dieser Menschentyp „ist […] in der völlig neuen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie ihn mit Herausforderungen konfrontiert, die rein rationale Antworten und Handlungsweisen verlangen, selbst ein Fremder geworden.”5 Es ist nachvollziehbar, dass jene der den Einparteienstaat bedienenden und ihm dienenden Intellektuellen, die auch vor der Rolle als informelle Mitarbeiter, als Informanten nicht zurückgeschreckt waren, den Versuch unternahmen, die Grenze zwischen den Handlangern und den Gegnern der Diktatur zu verwischen und diejenigen zu diskreditieren, die ihren Anstand bewahrt hatten. „Der Geheimdienst-Jude ist immer wütend auf mich, weil er glaubt, er habe den Preis des Überlebens gezahlt – indem er Geheimpolizist, Verfolger seiner Schicksalsgenossen wurde –, während es auch eine andere Art des Überlebens gab, die Reinheit, und deshalb vergibt er den Reinen nie.”6 Folglich konnte Kertész von dieser Intellektuellen-Elite auch in dem frei gewordenen Land keine Anerkennung, keine Wertschätzung erwarten, deshalb war er versucht, ins Ausland zu ziehen, wo er „geliebt“ wurde. Zugleich wusste er haargenau, dass das Interesse und die „Liebe“ seiner Gastgeber dem Gast gelten, und sie nur solange währen würden, bis er eine respektvolle Distanz zur Innenpolitik des Aufnahmelandes hält. Warum hätte er auch nicht so handeln sollen? Denn je größer sein Groll, seine Kränkung über die fehlende Liebe seiner Heimat sowie die Unerträglichkeit seiner Unbeachtung und seines Unverstandenseins geworden waren, desto wichtiger ist ihm die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit der Welt geworden. Bis Kertész, der immer peinlich genau darauf bedacht war, seine Lage und Rolle klar zu sehen, sich an einem Punkt angelangt die Frage stellte: Ob die vielen Anerkennungen und Gesten ausschließlich ihm, dem Schriftsteller gebühren oder in ihnen etwa auch politische Hintergedanken eine Rolle spielen? Und wie bar jeder Grundlage und ungerechtfertigt dieser Zweifel auch gewesen sein mag, sein Entschluss stand bereits im Moment der Fragestellung fest. Er musste heimkehren. Darüber hinaus musste er es auch aussprechen, dass er nicht bereit ist, zum „Holocaust-Clown“ zu werden:
„Zeit: In den letzten beiden Jahrzehnten waren Sie ein Held der deutschen Erinnerungskultur, ein gefragter Festtagsredner, ein gefeierter Auschwitz-Überlebender. Jetzt erfährt die Welt aus Ihrem Tagebuch: Sie haben sich die ganze Zeit über wie ein ˝Holocaust-Clown˝ gefühlt.
Kertész: Es geht in diese Richtung.
Zeit: Ist das Gedenken in Deutschland ein wenig zu einer Holocaust-Industrie geworden?
Kertész: Nicht ein wenig, ganz. ”7
Über den Holocaust
Kertész hat insofern Recht, dass man ihn im öffentlichen Diskurs über den Holocaust, der das öffentliche Leben in Ungarn seit Jahren beschäftigt missachtet: „[…] nie, in keinerlei Kontext erwähnt man dabei mich oder bezieht sich auf ein Wort von mir, so als hätte ich nie etwas über diesen Gegenstand geschrieben, als gäbe es mich überhaupt nicht. Man verurteilt mich zur Nichtexistenz, und dabei handelt es sich vor allem um liberale und jüdische Autoren.”8 „Es ist in Ungarn möglich, über den Holocaust, selbst über die Kunst des Holocaust zu sprechen, ohne dass mein Name dabei erwähnt würde. Als hätte ich auf diesem Gebiet nie etwas geleistet. Was haben sie mit mir? Erstens: persönlicher Haß und Neid. Zweitens: meine radikale Denkweise. Drittens: daß ich über Erfahrungen verfüge und nicht zu belügen bin: Ich war dort, und das hält eine jüngere, gänzlich unbegabte, aber umso ehrgeizigere Generation von Holocaust-Lügnern, die von Sentimentalität, dem Assimilationsdiktat und geschäftlichen Gewinnstreben ausgeht, für höchst geschäftsschädigend.“9
Die Missachtung von Kertész in dem öffentlichen Diskurs über den Holocaust lässt sich darauf zurückführen, dass Kertész im Erleben des Holocaust nach dem Universellen sucht, die „Meinungsmacher“, die den öffentlichen Diskurs dominieren, aber auf dem Partikulären beharren. „Ich habe nie versucht, den als Holocaust bezeichneten Problemkreis als so etwas wie einen unaufhebbaren Konflikt zwischen Deutschen und Juden zu betrachten; ich habe nie geglaubt, er sei etwa das jüngste Kapitel der jüdischen Leidensgeschichte, das logisch auf die vorangegangenen Prüfungen gefolgt ist; ich habe ihn nie als sogenannten einmaligen Ausrutscher der Geschichte gesehen, als ein in seiner Dimension alle früheren übersteigendes Pogrom, als die Vorbedingung für die Entstehung des jüdischen Staates. Ich habe im Holocaust die Situation des Menschen erkannt, die Endstation des großen Abenteuers, an der der europäische Mensch nach zweitausend Jahren ethischer und moralischer Kultur angekommen ist.“10
„Das Wesentlichste ist nicht einmal, was mit den Juden geschehen ist, das Wesentliche ist, was mit den europäischen Werten geschehen ist.”, schreibt er.11 Auch in jener Hinsicht geht er einen anderen Weg, nach dem seiner Ansicht nach „[…] der Holocaust […] nicht trennt, sondern vereint, weil das Universelle des Erlebnisses immer stärker ans Licht tritt.“12 Zugleich fokussieren die den Holocaust schallend in ihrem Mund Führenden auch siebzig Jahre danach darauf, was voneinander trennt, was gegenüberstellt. Sie bestreiten das Recht der Enkelkinder, der Urenkelkinder darauf, in sich nicht die Nachkommen von Tätern und Opfern sehen zu sollen, sondern Landsleute, Schwestern und Brüder. Kertész redet von der Fähigkeit des Holocaust, Werte zu erschaffen, sie aber von der Unmöglichkeit der gemeinsamen Trauer. „Der Holocaust ist ein Wert, weil er über unermeßliches Leid zu unermeßlichem Wissen geführt hat und damit eine unermeßliche moralische Reserve birgt.”13 – schreibt er. Nachdem mittlerweile „die Judenfrage zur Gewissensfrage Europas wurde“14 , gehören „Europa und der Holocaust, der Holocaust und das europäische Bewußtsein […] irgendwie zusammen.“15 In diesem europäischen Bewusstsein ist Auschwitz zum universellen Sinnbild geworden, „das das Zeichen der Unvergänglichkeit trägt; das in seinem bloßen Namen sowohl die ganze Welt der nazistischen Konzentrationslager als auch die allgemeine Erschütterung des Geistes darüber faßt und dessen ins Mythische erhobener Schauplatz erhalten werden muß, damit die Pilger ihn aufsuchen können […]“.16 Dann kommt er zu der Schlussfolgerung, dass „’Auschwitz und was dazugehört (aber was gehört jetzt schon nicht mehr dazu?) ist das größte Trauma des europäischen Menschen seit dem Kreuz, auch wenn es vielleicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte braucht, bis er sich dessen bewußt wird.’“17
Über den Gulag
„Die Nazis musste man überleben. In der Zeit des Bolschewismus war keinerlei Hoffnung auf Überleben; das System sah nicht so aus, als sei es am Ende. Aber ich habe seine Existenz nie akzeptiert. Ich habe mich nicht in seine Gedankenwelt eingefügt, nicht seine Sprache gesprochen, mich nicht in dem eingerichtet, was man normales Leben nennt […].“18 Kertész paktierte aus moralischer Überzeugung nicht mit dem kommunistischen politischen System, welches die Moral leugnete. Seine Außenseiterstellung war diesmal seine eigene Entscheidung, er wurde nicht von seinen Verfolgern wegen seiner Herkunft dazu gezwungen. Er war diesmal auch kein Kind mehr, wie er es noch war, als man ihn einst ausgestoßen und deportiert hatte. Seinen Entschluss, die damit verbundenen Konsequenzen nicht scheuend, fasste er im Erwachsenenalter. „Diesmal konnte ich also mit erwachsenen Augen – und nicht wie einst als Kind – beobachten, wie eine Diktatur funktioniert. Ich sah, wie ein Volk dazu gebracht wurde, seine Vorstellungen zu verleugnen, sah die ersten, vorsichtigen Gesten der Anpassung, begriff, daß die Hoffnung ein Instrument des Bösen ist und Kants kategorischer Imperativ, die Ethik, nur eine fügsame Dienstmagd der Selbsterhaltung. ”19 Die beiden Diktaturen sind für ihn die Manifestationen derselben menschenfeindlichen, inakzeptablen Unterdrückung geworden. Daraus ragte nur die Erfahrung von 1956, der Moment der ungetrübten, die Nation vereinigenden Verteidigung der Freiheit heraus. Die freiheitslose Welt der diesem Moment vorangehenden und folgenden Jahrzehnte stellte auch ihn, wie auch andere vor die Entscheidung „Wills Sklave du, willst frei du sein? / Das gilt es jetzt, die Wahl ist dein!“20 Er konnte keine andere Entscheidung treffen. Als einstiger Lagerinsasse von Auschwitz und Buchenwald konnte er nicht erneut, noch dazu freiwillig, zum Knecht werden. Er musste seine Freiheit bewahren und dies tat er auch. Er entschied sich also für den einzig möglichen Weg: für die innere Emigration. „Der Ekel und die Depression, mit denen ich allmorgendlich aufwachte, stimmten mich auf der Stelle auf die Welt ein, die ich darstellen wollte. Ich mußte gewahr werden, daß ich den unter der Logik des Totalitarismus stöhnenden Menschen in einem anderen Totalitarismus darstellte, und unzweifelhaft machte das aus der Sprache, in der ich meinen Roman schrieb, ein suggestives Medium. Wenn ich meine damalige Situation ganz ehrlich ermesse, weiß ich nicht, ob ich im Westen, in einer freien Gesellschaft, fähig gewesen wäre, den Roman zu schreiben, den die Welt heute unter dem Titel ’Roman eines Schicksallosen’ kennt und dem die höchste Anerkennung der Schwedischen Akademie zuteil wird. (…) Es ist mir eine besondere Freude, diese Gedanken in meiner Muttersprache, auf Ungarisch vortragen zu können. Ich bin in Budapest geboren, in einer jüdischen Familie, deren mütterlicher Zweig aus dem siebenbürgischen Klausenburg und deren väterlicher aus der südwestlichen Ecke der Balatongegend stammt. Meine Großeltern zündeten am Freitagabend, zum Sabbatbeginn, noch Kerzen an, ihre Namen aber waren schon ungarisiert, und es war ihnen selbstverständlich, das Judentum als ihren Glauben, Ungarn jedoch als ihre Heimat anzusehen. Meine Großeltern mütterlicherseits fanden im Holocaust den Tod, die Großeltern väterlicherseits hat das kommunistische Rákosi-Regime umgebracht, als es das jüdische Altersheim von Budapest in die nördliche Grenzregion des Landes zwangsumsiedelte. Für mich enthält und symbolisiert diese kurze Familiengeschichte gleichsam die jüngste Leidensgeschichte des Landes. Ich lernte aus alledem, daß die Trauer nicht nur Bitterkeit, sondern auch außerordentliche moralische Reserven birgt. Jude zu sein: das empfinde ich heute in erster Linie wieder als eine moralische Aufgabe. Wenn der Holocaust inzwischen Kultur-schaffend wirkt – und das ist unleugbar der Fall –, so kann er das allein mit dem Ziel, aus der nicht wieder gut zu machenden Wirklichkeit auf dem Wege des Geistes Wiedergutmachung, Katharsis zu zeugen. Dieser Wunsch hat alles inspiriert, was ich je geschaffen habe.”21
Die beiden totalitären Diktaturen, die das zwanzigste Jahrhundert – mal miteinander verbündet, mal verfeindet – gemeinsam mit den Füßen getreten hatten, boten Kertész die gleichen Erfahrungen. „Der eine erscheint als Erlöser, und unter ihrem Mantel hockt der Teufel; die andere ist wie der Satan gekleidet und ist es auch.“22 – hielt er fest. Zu dieser Erfahrung gehörte auch das noch hinzu, wie die kommunistische Diktatur mit der Erinnerung an den Holocaust umging. Denn sie duldete nicht, dass man über ihn sprach, genauso wie sie nicht duldete, dass das Judentum über seine Verfolgung und über seine Leiden unter den Nazis sprach. „Bislang habe ich noch keine einzige akzeptable Erklärung dafür gehört, warum das Sowjetregime und die angeschlossenen Diktaturen sozusagen schon das bloße Wissen über den Holocaust nicht ertrugen. Warum sich die stalinistische Diktatur gerade – auch – in dieser Frage mit dem Nazi-Totalitarismus gleichsetzte, schien zu offenkundig, als daß man eine Erklärung dafür gesucht hätte. Stalin behielt sich dadurch quasi das Recht auf den eigenen Völkermord vor: Er konnte nicht wollen, daß in seinem Reich womöglich ein Mitgefühl für eventuelle spätere Opfer geweckt würde.“23
Der Vergleich der beiden totalitären Diktaturen führt Kertész zur Erkenntnis ihrer grundlegend gleichen Wesensmerkmale, selbst wenn er selbstverständlich jene „differentia specifica” nicht außer Acht lässt, welche die „Kultur-schaffende“ Kraft des Nazi-Holocaust darstellt. Die Frage ist offen, ob wir fähig sind, fähig sein werden, den Gulag in den Geist des über unser Leben, über die menschliche Existenz erzählenden „Narrativs“ einzubauen. Alles in allem kann er zu keiner anderen Folgerung gelangen, als dass: „[…] die Verbannung aus der menschlichen Existenz, daß Qualen, Hunger, Zwangsarbeit, Foltertod in Recsk nicht anders waren als in Dachau und daß sich Kolima in dieser Hinsicht nicht von Mauthausen unterschied.“24 „Das Leid hat kein Maß, die Ungerechtigkeit keinen Gradmesser. Der Gulag und das Netz der Nazi-Lager wurden zu ein und demselben Zweck errichtet, und daß sie diesen Zweck erfüllt haben, bezeugen Millionen von Opfern.“25 – argumentiert er.
Der 85 Jahre alte Imre Kertész ist ein freier Mensch. Er ist es unter beiden menschenfeindlichen totalitären Diktaturen geblieben, trotz der beiden, gegen die beiden. Und das ist er auch heute.
Gott segne ihn.
1 Auf Deutsch erschien der Band unter dem Titel Die exilierte Sprache. Essays und Reden.
2 Auf Deutsch erschienen die Texte dieses Bandes als Teil des Buches Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 mit einem Prosafragment, das sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Tagebuchaufzeichnungen beinhaltet, als der für die Grundlage der Zitate genommene ungarischsprachige Band Mentés másként, feljegyzések 2001-2003-ból.
3 Kertész, Imre: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 mit einem Prosafragment. (Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013, S. 158. (Im Weiteren: Einkehr.)
4 Einkehr S. 157. Das in eckigen Klammern Zitierte fehlt in der deutschen Ausgabe. Die Textstelle lautet im ungarischen Original: „Két hivatalos zsidó, egy Reich-Ranicki nevű lengyel-német, meg az Ausztriában lebzselő volt sztálinista Lendvai Pál kijelentette, hogy a Nobel-díjat nem nekem kellett volna megkapnom.” In: Kertész, Imre: Mentés másként, feljegyzések 2001-2003. Budapest: Magvető 2011, S. 182.
5 Kertész, Imre: Der überflüssige Intellektuelle. (Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.) In: Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 101. (Im Weiteren: Sprache.)
6 Einkehr S. 154f.
7 Das Interview der ZEIT mit Imre Kertész ist abrufbar unter: http://www.zeit.de/2013/38/imre-kertesz-bilanz.
8 Einkehr S. 51.
9 Einkehr S. 63.
10 Rede bei der Verleihung des Nobelpreises in Stockholm. Die deutschsprachige Version findet sich unter: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2002/kertesz-lecture-g.html
11 Einkehr S. 65
12 Kertész, Imre: Lange, dunkle Schatten. (Aus dem Ungarischen von Géza Deréky.) In: Sprache S. 57.
13 Kertész, Imre: Der Holocaust als Kultur. (Aus dem Ungarischen von György Buda.) In: Sprache S. 88.
14 Kertész, Imre: Die Unvergänglichkeit der Lager. (Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.) In: Sprache S. 49.
15 Kertész, Imre: Lange, dunkle Schatten. (Aus dem Ungarischen von Géza Deréky.) In: Sprache S. 57.
16 Kertész, Imre: Die Unvergänglichkeit der Lager. In: Sprache S. 45.
17 Kertész, Imre: Free Europe. (Aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer.) In: Sprache S. 65.
18 Einkehr S. 81.
19 Rede bei der Verleihung des Nobelpreises in Stockholm.: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2002/kertesz-lecture-g.html
20 Zitat aus dem Nationallied (ung. Nemzeti dal) des ungarischen Dichters, Sándor Petőfi. Deutsche Übersetzung von Ladislau von Neugebauer. In: Petőfí, Alexander: Gedichte. Leipzig: Max Hesses Verlag 1910, S. 291.(Das Zitat lautet auf Ungarisch: „Rabok legyünk vagy szabadok? Ez a kérdés, válasszatok!”)
21 Rede bei der Verleihung des Nobelpreises in Stockholm. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2002/kertesz-lecture-g.html. In der deutschsprachigen html-Version fehlt der letzte Satz des Zitates, das in der ungarischen Buchausgabe zu finden ist: Kertész, Imre: A stockholmi beszéd [Die Stockholmer Rede]. Budapest: Magvető 2002, S. 13f. und 21f.
22 Kertész, Imre: Die Unvergänglichkeit der Lager. In: Sprache S. 47.
23 Kertész, Imre: Lange, dunkle Schatten. In: Sprache S. 55.
24 Kertész, Imre: Die Unvergänglichkeit der Lager. In: Sprache S. 42.
25 Ebenda S. 52.